Nordlicht über der Kinzig

„Gibt es dieses ‚Nordlicht’ wirklich oder nur beim Komasaufen?“ fragte Maria bewusst dümmlich in die schnatternde Runde im „Artemis Palace“ in der Gelnhäuser Straße, wo die schwitzende Stammtisch-Clique bereits gefühlte hundert Jahre auf ihr Gyros wartete…

„Wie kommst du denn darauf – bei dieser Affenhitze?“ stöhnte Gerald neben ihr, mit einem kaum merkbaren Zucken um seine tropfnasse Oberlippe.

„Ja hat nicht gerade jemand am Tisch übers Nordlicht gelabert?“ wunderte sich Maria. Irritiert schwenkte sie ihre schwarze Haarpracht ins tosende Stimmengewirr.

„Nee“ blökte Gerald, während er ausgelaugt seine Stirne trocknete und das zweite Glas Bier killte, „ich hab nichts Nordlichtmäßiges gehört?“

„Hey – herhören, wer hat gerade ‚Nordlicht’ intoniert?“ trompetete Maria schrill in die wabernde Runde.

„Ich“, rief Kurt hinten von der Tischecke, „ich hab der Martha – quasi zur Abkühlung – von unserer letzten Kreuzfahrt zum Nordkap erzählt und von den irren Nordlichtern, die wir jeden Abend gucken mussten – echt der Wahnsinn!“

„Na siehst du – doch Nordlicht! Ich bin ja nicht taub! Aber du, Gerald, solltest dir vielleicht statt Biersaufen einmal deine Löffelchen durchpusten lassen, was hältst du davon?“

„Haha – sehr witzig“ nuschelte Gerald, trocknete sorgfältig sein verschwitztes Gesicht mit zwei Papiertaschentüchern und orderte gleich das dritte Bier da er schon einmal am Reden war …

„Und Kurt…weißt du jetzt wie so ein ‚Nordlicht’ entsteht?“ fragte Maria angriffslustig.

„Ja … oder vielmehr, nein!“, sagte der braungebrannte hoch aufgeschossene Kurt und verzog bedauernd sein feucht glänzendes Gesicht.

„Unser Reiseführer hatte es zwar dreimal am Tag erklärt, aber ich hab’s vergessen und auch nie richtig kapiert, wenn ich ehrlich bin. Auf jeden Fall hat es irgendetwas mit dem Erdmagnetfeld zu tun.“

„Und? Ist das alles?“ hakte Maria keck nach.

„Ja – mehr weiß ich nicht mehr, Frau Oberlehrerin…“

„Das ist ja weniger als Nichts, Herr Kurt… Wie war grad ihr Name?“

„Kannengießer“!

„Setzen – gibt eine Sechs, Herr Kannengießer!“

„Ich sitz ja schon“, lachte Kurt und wandte sich wieder seiner bunt bemalten Nordkap – Martha zu.

„Und – du Johannes, weißt du vielleicht wie dieses ominöse ‚Nordlicht’ zustande kommt?“ fragte Maria, nagend wie sie nun einmal war, plötzlich ihr Gegenüber, nachdem sie Johannes vorher kurz fixiert hatte.

Sie streifte dabei aufreizend eine ihrer schwarzen Haarsträhne hinter ihr abstehendes rechte Ohr und genoss die Verlegenheit, in die sie den ‚stillen Töpfer’, wie sie den Industriekeramiker spöttisch nannte, mit ihrer überraschenden Frage brachte.

Johannes war tatsächlich sehr schweigsam! Und unauffällig!

Die schütteren, schmutzig blonden Haare, kurz geschnitten, taten ein Übriges, wobei das großflächige Gesicht stark gewann, wenn er sein verschmitztes Grinsen aufsetzte.

Er war dreißig, Junggeselle und schaffte es trotz seiner zurückhaltenden Art bei jeder Stammtischrunde am dritten Freitag im Monat, Maria gegenüber zu sitzen; grad so als wollte er sicher stellen, dass wirklich alle ihre boshaften Giftpfeile wie beim heiligen Sebastian, ausschließlich in seinem Körper landeten und niemand anderen verletzten.

Vielleicht war das auch der entscheidende Grund, warum er immer noch in dieser Runde saß, seit ihn Kurt vor acht Monaten mitgebracht hatte: denn von der Firma Heraeus in Hanau war er zu einem zweijährigen Forschungsprogramm im Bereich Industriekeramik geholt worden und war ganz neu in Rodenbach.

Und die Gluthitze des Sommers kam ihm wohl gerade zupass: wie sonst war bei all seiner Zurückhaltung zu erklären, dass er ständig gute Laune hatte und immer öfter die Getränkerechnung für alle übernahm; auch für die ‚giftige Maria’, wie er feixend anmerkte, ihr aber damit nur ein nachsichtiges Lächeln abrang, bei dem sie gerade mal den linken Mundwinkel nach unten zog.

Maria hatte mit der brütenden Hitze im „Artemis Palace“ auch kein Problem: als sie ihr Gyros ohne großflächigen Schweißausbruch in sich hineingearbeitet hatte, posaunte sie sofort wieder zwei Mal hintereinander die ‚Nordlicht – Frage’ in Richtung Johannes und das total verblasste, grauenhafte Wandgemälde der Akropolis hinter ihm!

Da Johannes aber noch immer an einem größeren Tintenfischlappen herumkaute, sagte er nur „so, tu ich das“? als Maria spöttisch meinte, dass er doch sonst immer so klugscheißerisch daherkomme.

„Ja das tust du“, warf Maria schneidend ein; die andern horchten für einen Moment auf.

„Tu ich das wirklich?“

„Ja schon manchmal…“ schallte es von allen Seiten.

„Oh – das tut mir aber Leid“, sagte Johannes mit einem leicht rötlichen Farbton im Gesicht: „als Besserwisser wollte ich nämlich nie gelten, wenn ich mich recht entsinne – trotzdem Prost allerseits!“ Er hob sein Glas, prostete vergnügt allen zu und schluckte den restlichen Amthystos – eine Art griechischer ‚Grüner Veltliner’ – in einem Zug weg.

„Prima, dass wir das geklärt hätten – aber jetzt  wieder zum ‚Nordlicht’, lieber Johannes, so schnell kommst du mir nicht davon, gell!“ sagt Maria nach einer winzigen Pause freundlich, aber doch so, dass Johannes wusste, was er zu tun hatte.

Denn obwohl ihm der Anblick des orange funkelnden Longdrinks, an dem Maria ununterbrochen wie ein indisches Rüsselschwein herumsaugte, bis in die Gedärme weh tat, sagte er tapfer, „gut ich will es versuchen! Aber vorher müssen ein paar Grundlagen abgeklärt werden, sonst wird das nichts! Einverstanden?“

„Wenn’s sein muss?“ grunzte Maria.

„Also, Maria, weißt du was ‚ionisierte Teilchen’ sind?“

„Du meinst jetzt aber mit ‚Teilchen’ nicht die oberst leckeren Quarkteilchen, vom Bäcker Briegel oder die noch geileren mit Butterstreusel, die ich so gern in mich hinein spachtle? Die sind nämlich alles andere als ‚ionisiert’, lieber Johannes…“

„Johannes – du Saukerl, ist dieses ‚Ionisieren’ was Schweinisches?“, blaffte Kurt von seiner Tischecke dazwischen.

„Oder was geil Antikes?“ kicherte seine buntige Nordkap – Martha.

„Oder meinst du mit Teilchen nur eines dieser langweiligen ‚Atome’, die jeder nachhaltig denkende Deutsche neuerdings gefälligst zu meiden hat?“ fragte Maria plötzlich überraschend ernst und nippte zur Betonung ihrer spontan aufgesetzten Seriosität auch gekonnt damenhaft an ihrem ‚orangefarbenen Gülleextrakt’.

„Guck mal da“, spottete Hermine, neben ihrer Freundin Maria, „unsere Nervensäge macht jetzt einen auf Naturwissenschaft, das ist ja ganz was Neues!“

„Sag wenn ich das richtig checke, Johannes, meinst du doch mit ‚Ionisieren’, dass aus dem Atom ein Elektron rausgedonnert wird und das Restatom sich affengeil in ein ‚positives Ion’ umwandelt, oder?“ fragte Maria in die eingetretene Stille und lümmelte sich aufreizend jetzt mit beiden Ellbogen auf den Tisch.

Johannes, leicht verstört von Marias wetterleuchtenartig aufblitzenden Physikkenntnissen, schloss seinen offen stehenden Mund und gackerte in Richtung Maria, „ja – das – mein ich, Maria! Ge – ge – nau das mein ich…!“

„Und meinst du auch, dass bei dieser ‚Ionisation’, die anderen Elektronen dieses aufgegeilten Atoms auf höhere Energieniveaus geschubst werden und echt einen bunten Lichterwahnsinn erzeugen, wenn sie wieder auf die niedrigeren Niveaus zurückpurzeln?“

Johannes nickte nur stumm, da sich sein Mund, bei soviel physikalischem Sachverstand, wieder von selbst aufgeklappt hatte…

„Wie und das soll dieses ‚überirdische Nordlicht’ sein? Das ist doch nicht dein Ernst, Johannes – oder hast du’s grad verschluckt, weil du deinen Rachen nicht mehr zukriegst?“ kicherte Maria sichtlich zufrieden über die Reaktion auf ihr voll abgefahrenes Physikreferat; schließlich hatte sie erst vor ein paar Wochen ein supergeiles Abitur hingelegt…

„Nein Maria, das ist natürlich noch kein Nordlicht“, antwortete Johannes leicht angesäuert, aber auch beeindruckt, ohne Maria aus den Augen zu lassen und jetzt doch mit einigen Schweißperlen auf der Stirn, „das hängt nämlich von den Umständen ab, wo und wie diese ‚Ionisierung der Atome’ passiert!“

„Von welchen Umständen denn, los erzähl, du Schlauberger?“ drängte Maria.

„Na ja vom Erdmagnetismus am Nordpol, zum Beispiel …“

„Hey – warum das denn?“

„Weil am Nordpol die Erdmagnetlinien direkt senkrecht ins Meer gehen…“

„Oder ins Eis“, warf Maria ein, „was dann doppelt cool ist, oder?“

„Ja – so könnte man sagen, deswegen sieht man ja bei uns über der Kinzig zum Beispiel ums Verrecken kein Nordlicht, weil die Erdmagnetlinien nicht senkrecht in die Kinzig stürzen sondern flach drüber liegen, wenn du weißt was ich meine…“

„Meinst du flach liegen…oder flach legen, Johannes? Da ist nämlich ein feiner Unterschied, wie du vielleicht auch wissen könntest…“

„Ich wusste es doch, dass dieses ‚Ionisieren’ eine Sauerei ist!“ plärrte Kurt ins allgemeine Gegröle.

„Aber abgesehen von diesen angeblich flach liegenden Erdmagnetlinien über der Kinzig…“, bohrte Maria weiter „von welchen ‚anderen geilen Umständen’ hängt denn das Nordlicht noch ab? Mach’s doch nicht so unnütz spannend, Johannes!“

„Vom Sonnenzyklus… liebe Maria – und dieser komischen Elf-Jahres-Periode“!

„Sag bloß, dass die Scheiß-Sonne, die uns so schwitzen lässt, auch eine Periode hat? Das ist ja echt abgefahren, oder?“ kreischte Maria, zog endlich wenigstens einen ihrer Ellbogen vom Tisch und strich eine weitere feuchte Haarsträhne so nach hinten, dass Johannes für einen Moment ihre schweißglänzenden unbehaarten Achselhöhlen sah…

„Jetzt wird’s aber unappetitlich, gell, Maria“ ging Hermine dazwischen, während der Rest der Rund, völlig ermattet, Maria nur noch schweigend zuprosten konnte…

Johannes lächelte auch nicht mehr, er hatte endgültig die Lust an der ‚Entstehung des Nordlichtes’ und seiner ‚wissenschaftlichen Erklärung’ verloren.

Und da auch alle anderen, nicht nur vom ‚Griechischen Essen’ und der ‚Griechischen Hitze’ im Lokal genug hatten, sondern auch von Marias nagendem Nordlichtverhör, blies Kurt spontan zum Aufbruch und bereitete damit auf eine eher uncoole Weise dem Nordlichtspuk ein überraschendes Ende.

Sogar Maria hielt den Mund, während sie reihum alle umarmte und ihren Schweiß austauschte…

Aber als nach endlosen Wochen, an einem Dienstag im November, an dem Maria zufällig ihren einundzwanzigsten Geburtstag feierte, um achtzehn Uhr, in ihrer Wohngemeinschaft im Alten Dorf, in der sie mit einigen anderen hauste seit sie in Frankfurt studierte, ihr iPhone dröhnte und Johannes dran war, war sie schon arg erstaunt

Und noch verblüffter war sie, als Johannes meinte, dass er sich entschuldigen wolle, weil er damals im August wegen der subtropischen äußeren Umstände mit seiner Erklärung des Nordlichtes nicht zu Ende gekommen war und sich anschließend nicht mehr blicken lassen hatte.

„Drum“ – sagte er – nachdem er mehrfach tief Luft holte, möchte er heute an ihrem Geburtstag, rein zufällig und natürlich nur, wenn sie nichts Besseres vor hätte, ihr zwar das Nordlicht auch nicht erklären, aber ihr wenigstens die Chance bieten, es richtig cool anschauen zu können… wenn sie möchte?

„Was anschauen?“

„Das Nordlicht!“

„Wo denn?“

„Wo – wo – wo, frag doch nicht so viel, Maria …“

„Aber ich will wissen wo?“

„Na – wo schon, über der Kinzig natürlich, ist doch klaro, oder?“

„Du hast ja echt einen Sprung in der Schüssel!“

„Nein Maria, das sieht man wirklich heute!“

„Du vielleicht, weil du besoffen bist, wie es scheint, oder?“

„Nee – du auch Maria und sogar dann, wenn du nur wieder ununterbrochen deine komische ‚Orangengülle’ schlapperst …“

„Aber du hast doch selbst gesagt, dass es über der Kinzig kein Nordlicht geben kann, wegen diesem flachliegenden Erdmagnetfeld“

„Ja das war gestern, Maria, aber heute gibt es eines…“

„Mir scheint jetzt willst du mich flachlegen, du Scherzbold, oder?“

„Nein, will ich nicht – also möcht ich schon – wenn du weißt was ich meine, aber nicht heute!“

„Wann denn dann?“

„Weiß ich nicht Maria, aber heute möchte ich dir das Nordlicht zeigen – wirklich…“

„Also ganz wirklich nur das Nordlicht, Johannes?“

„Ja so wirklich wie es wirklicher nicht geht…“

„Cool – dann vertraue ich dir halt, Johannes und komme – oder holst du mich ab, ich weiß ja gar nicht wo ich hin soll?“

„Natürlich, ich steh doch schon vor deinem Haustor…

„Dann komm doch hoch!“

„Ja wenn ich darf?“

„Klaro du Blödmann…!“

Und unabhängig davon, welch krachender Unsinn dann im ‚Rodenbacher Boten’“ und im ‚Hanauer Anzeiger’ stand, über dieses angebliche Laserspektakel an der Kinzig im Vogelschutzgebiet bei Erlensee – das gerade nur solange gedauert haben soll, dass deren dreiste Verursacher, die sich weder um die verärgerte Bevölkerung noch aufgeschreckte Tiere scherten, selbst nach Wochen noch nicht ausfindig gemacht werden konnten – wollte Maria nach diesem Dienstag absolut nicht mehr über ‚Nordlichter’ reden und auch nichts mehr darüber hören. Aber bestimmt nicht deswegen, weil ihr die aufgeschreckten Vögel leid getan hätten…

Und bei den darauf folgenden Stammtischtreffen im „Artemis Palace“ saß sie auch nie mehr Johannes gegenüber, sondern giftete neben ihm in die Runde, während er wie früher still in sich hineinschmunzelte und selbst noch aus dieser abwehrtechnisch ungünstigen Position, den einen oder anderen ihrer Giftpfeile einzufangen versuchte.

Die Hände der beiden blieben während dieser Treffs, komischer Weise weitgehend unsichtbar! Praktisch geisterten sie nur mehr beim Trinken und während des Verzehrs des Gyros, beziehungsweise der üblichen Tintenfischlappen über den Tisch – und natürlich, wenn Johannes die Rechnung für sich und Maria bezahlte.

Und als Kurt Kannengießer einmal keck die Frage in den Raum donnerte, ob sie denn beide keine Unterarme mehr hätten, da man die überhaupt nicht mehr sähe, grad so als wären sie amputiert worden, grinsten Johannes und Maria sich nur gegenseitig an und dann in die Runde – ohne auch nur ein winziges Bisschen rot anzulaufen…

Echt cool!

KH

PS:
Diese Geschichte ist aus dem Buch „LichterWahnSinn“ der Autorengruppe ‚Wortspieler‘; das Foto ist von Ralf Weingärtner

Eine Antwort

  1. Jetzt verstehe ich das Nordlicht zwar immer noch nicht ganz und gar, aber endlich, dank dem Quarkteilchen-Foto, dass Liebe wohl wirklich durch den Magen geht, oder?

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