Mein Morbus-Scheuermann

Oder:
Die Reichen und die Armen. Wie das Leben so spielt.

Äskulapstab, gemeinfrei
Äskulapstab, gemeinfrei

Vor kurzem habe ich ihn erwähnt, deshalb muss ich mal ja mal über ihn schreiben, über meinen Morbus Scheuermann.

Unerfreuliche Erfahrungen mit Haus- und Fachärzten

Als Kind und Jugendlicher hatte ich überwiegend (eigentlich nur) schlechte Erfahrungen mit Ärzten. Das ging los mit dem Hausarzt. Bei den Besuchen musste ich immer lange im Wartezimmer warten, die kurze Zeit dann beim Arzt hat aber eigentlich nie etwas gebracht. Außer ein Rezept für Tabletten.

Auch die „Hausbesuche“, die es bei hohem Fieber ab und zu mal gab, haben mich mehr an einen Besuch vom Pfarrer als den eines Medizinmannes erinnert. Und auch da blieb dann immer nur das Rezept für die Medizin, die zu nehmen war. Wegen der die Erkältung oder was es war auch nicht schneller vorbeiging. Die „Hausmittel“ haben eh besser geholfen, was zumindest das Leiden unter den Symptomen anging.

HNO-Ärzte wollen auch leben, dies aber gut

Meine Erlebnisse mit den medizinischen Spezialisten – „Fachärzte“ genannt – waren keinesfalls erfreulicher. So war eines meiner schlimmsten Erlebnisse, wie mir im Alter von fast zehn Jahren im schönsten Frühling und kerngesund die Mandeln heraus operiert wurden. Die elterlich/ärztliche Motivation damals war, dass ich vor dem Wechsel ins Gymnasium stand und deshalb gesundheitlich robuster (weniger Fehltage in der Schule) sein sollte, als ich dies in meinen Volksschuljahren war.

Seitdem habe ich chronische Probleme im Hals. Von meinem Leiden unter diesem HNO-Arzt habe ich hier berichtet.

Die Gips-Schale vom Orthopäden

Je älter man wird, desto mehr fallen Tabus. So „oute“ ich mich heute zu einem der Dinge, über die ich nie gesprochen habe, weil es mir peinlich war. Ich musste ein paar Monate (mehr als ein Jahr) jede Nacht in einem Gips-Korsett schlafen, ich denke mal so während und bis kurz nach der Pubertät.

Die Ursache war mein Morbus-Scheuermann und ein Orthopäde, der noch reicher werden wollte. Irgendwann einmal bei einer der zahlreichen Reihen-Untersuchungen (auch mit Röntgen), denen sich ein heranwachsender in den 50iger und 60iger Jahren unterwerfen musste (warum eigentlich?), entdeckte ein findiger Mediziner als zufälligen Befund, dass mein Rückgrat nicht ganz gerade war, sondern eine gewisse leichte Biegung zur Seite hatte, die man sich wie ein wenig wie den Buchstaben „S“ mit einer Krümmung nach links und rechts vorstellen kann. Eben die nach Herrn Scheuermann benannte Erkrankung.

Normal und anormal

Ich selber habe nichts davon bemerkt und fühlte mich auch nicht behindert. Schon damals kam mir die Vorstellung ein wenig absurd vor, dass am menschlichen Körper immer alles so gerade und symmetrisch sein sollte. So habe ich auch den Morbus Scheuermann nicht als Krankheit betrachtet, sondern als Anomalie. Aber auch schon damals hatte ich die Vermutung, dass das eher ganz gerade Rückgrat eine Anomalie ist. Wahrscheinlich gibt es kein einziges, wenn man nur die Messgenauigkeit erhöht.

In den Augen meiner Eltern hatte ich oft eine schlechte Haltung und habe meinen Körper nie aufrecht genug gehalten. Meinen Eltern war eine aufrechte Haltung (des Körpers) aber sehr wichtig. „Junge, steh doch nicht immer so buckelig da“ oder „Brust raus, Kopf hoch“ – so ging es laufend.

Ich habe das heute noch in den Ohren und hatte die Nase so richtig voll von den permanenten Ermahnungen. Heute noch werde ich ärgerlich, wenn ich solche Sätze bei Eltern (oder Großeltern im Umgang mit ihren Enkeln) höre.

So kam der Morbus Scheuermann meinen Eltern als Erklärung für mein Fehlverhalten gerade recht. Und ab ging es zum Orthopäden.

Gerade heute meine ich, dass ein „aufrechtes Rückgrat haben“ wichtiger ist als eine gerade Wirbelsäule. Und eine „aufrechte Haltung“ wichtiger ist als die Körperhaltung. Aber das „nicht so ganz aufrechte Rückgrat“ ist im Gegensatz zum leicht gebogenen keine Krankheit. Und so gibt es auch keine Therapie für aufrechtes Rückgrat und Haltung …

Eine erkannte Krankheit muss behandelt werden

Eine erkannte „Krankheit“ muss also behandelt werden, warum auch immer. Dazu wurde mein Körper und vor allem das Rückgrat vermessen und dann eine Gipsschale in der Größe meines Rumpfes angefertigt. In dieser waren an den Seiten jeweils eine Einlage, die man sich wie ein Klötzchen vorstellen muss. Diese Klötzchen drückten den Körper in eine dem falschen „S“ entgegengesetzte „S“-Lage. Später habe ich die die Gips-Schale im Keller gefunden. Konnte mich nur wundern, was dieser Blödsinn für einen Sinn gehabt haben soll und habe das Teil mit gemischten Gefühlen entsorgt.

So musste ich für Monate jeden Abend meinen Rumpf in diese Gipsschale vom Hals bis zum Beinansatz rein quetschen und drin schlafen. Das habe ich auch gemacht, da gut kontrolliert und weil ich damals noch relativ folgsam und vernünftigen Argumenten zugänglich war. Aber es hat – natürlich ?! – nichts genutzt. Das Rückgrat ist immer noch krumm … Und ich habe gelernt, dass auch „vernünftige Argumente“ meistens nicht „gute Gründe“ sind, etwas zu machen, das man nicht machen mag.

Vielleicht hilft es ja zum „untauglich“

Wie ich dann 18 Jahre wurde und zur Musterung musste, dachte ich dank meines Morbus Scheuermann aus medizinischen Gründen der Bundeswehr entgehen zu können. Sozusagen als gerechten Ausgleich für meine Anomalie. Doch auch diese Hoffnung wurde enttäuscht.

Denn das entscheidende Gutachten für die beantragte Nachmusterung wurde in der Klinik des bekannten Professor Guiliano (oder so ähnlich) erstellt. Der war ein ganz berühmter Orthopäde mit einer eigenen Klinik in Göggingen, noch viel reicher als die anderen Orthopäden. Den Namen habe ich nur noch schwach in meiner Erinnerung, er könnte also auch falsch sein. Und diese Klinik hatte Sammeltermine für die Bundeswehr, da wurden die Gutachten in Serie erstellt.

Die Türen gehen auf und zu

Da sass ich dann auf einer langen Bank in der Klinik des berühmten Professors. Auf der Bank sassen vor und nach mir lauter Schicksalsgenossen. Die hatten auch einen Morbus Scheuermann und wollten auch nicht zur Bundeswehr. Es gab zwei Türen zu den Ärzten. Immer wenn da einer rauskam, durfte der nächste von uns auf der Bank rein.

Mir fiel dann irgendwann auf, dass meine Leidensgenossen, die vor mir dran waren, aus der linken Tür mit sehr viel fröhlicheren Gesichtern rauskamen als die aus der rechten Tür. Wie ich das kapierte, war es nur schon zu spät. Die rechte Tür ging auf und ich war dran. Ich musste rein. Und netter junger Arzt erklärte mir, dass ein Morbus Scheuermann gerade in eher schwacher Ausprägung wie bei mir, kein Grund wäre, seinen Wehrdienst nicht zu machen. Und ansonsten wäre ich ja gesund. So täte es ihm leid – ich wäre tauglich. Und mein Gesicht strahlte auch keine Fröhlichkeit mehr aus.

Hans darf’s und Hänschen muss es wieder ausgleichen.

Später erfuhr ich, dass hinter der linken Tür der Chef der Klinik sass. Hinter der rechten arbeitete der Assistenzarzt. Und da der Chef ein aktiver und stadtweit bekannter Pazifist war, hat der alle „Zu Begutachtenden“ untauglich geschrieben. Der Assistenz musste die Quote wieder in Ordnung bringen und seine Fälle alle tauglich schreiben. Das war halt ein typisches Assistenten-Schicksal und ein gutes Beispiel für Arbeitsteilung …

Und ich kam halt zum Assistenten. Aus eigener Dummheit. Hatte ich das System doch durchschaut und hätte nur meine Position auf der Bank verändern müssen. Z.B. durch „aufs Klo gehen“ mit neuer Einreihung. Aber wie oft im Leben hatte ich ein klein wenig zu spät kapiert, was da eigentlich gespielt wird …

So haben mir mein Morbus Scheuermann und das Jahr im Gips nicht geholfen und ich wurde tauglich. Der Assisten hat mich auch noch gebeten, das Ergebnis draußen auf keinen Fall zu erzählen, weil es ja noch nicht ganz sicher wäre.

Weil ich mich auch bei der Kriegsdienst-Verweigerung extrem ungeschickt angestellt habe (dies aus Trotz und vorsätzlich), musste ich zur Bundeswehr. Und habe 18 Monate Wehrpflicht geleistet, die ich aber mehr als eine Mischung von Zwangsdienst und Zwangsarbeit empfunden habe. Und bin heute gegen jede Form von Zwangsdienst und Zwangsarbeit.

DerAssistenzarzt hatte natürlich recht. Ein Morbus Scheuermann stört im Gefecht bestimmt nicht. Und im Krieg hat man wahrscheinlich gar keine Zeit an ihn zu denken. Man kann mit ihm hervorragend Brüllen und Menschen auf und ab marschieren lassen. Man kann mit ihm auch prächtig Kompanie-Unterricht halten und Rekruten an den Waffen ausbilden. Habe ich dann alles gemacht – ist aber eine andere und sehr lange Geschichte.

Und wenn es ernst wird, dann wird der Morbus Scheuermann den tapferen Soldaten sicher auch nicht am Totschießen anderer Menschen (des Feindes) hindern. Die dann auch ein gerades oder gebogenes Rückgrat haben. Totschießen, das habe ich glücklicherweise nie machen müssen und bin dafür sehr froh und dankbar. Weiss ich doch, wie viele meiner Lehrer und auch mein Vater nach ihrem Dienst bei der Wehrmacht mit schweren Trauma leben mussten. Unter dem dann natürlich auch wieder wir gelitten haben.

Gut fünfzig Jahre ist es her …

Es waren vier Herren in weißen Kitteln, die mein Heranwachsen mitbestimmt haben. Das war unser Hausarzt. der mir gerne teuere Medizin verschrieben und mich an Fachärzte überwiesen hat. Der HNO-Facharzt hat mich operiert und meiner Mandeln beraubt. Der Orthopäde hat dafür gesorgt, dass ich viele Nächte in einer Gipsschale verbringen musste. Nur der Zahnarzt hat mich ab und zu von schlimmen Schmerzen befreit.

Alle diese Arzt-Personen waren für mich damals die reichsten Menschen, die ich in der großen Stadt kannte. Alle strahlten so richtig aus, dass sie Geld hatten, fuhren ein großes Auto und wohnten in tollen Häuser. Hatten ein Segelboot mindestens am Ammersee. An ihren Wänden in der Praxis hingen Bilder und berichteten von Reisen in fremden Ländern. Das war etwas, was für meine Eltern und mich damals unerreichbar war.

Wie das Leben so spielt

Noch reicher in dem mir bekannten Horizont war nur die Inhaber-Familie der Fleischfabrik in Thannhausen, bei der meine beiden Tanten als Hilfsarbeiter schafften. Die beiden hatten nichts gelernt, weil sie mal den väterlichen Betrieb (eine Wirtschaft mit Landwirtschaft) in Neu oder Alt Lublitz (das weiß ich nicht mehr so genau) hätten übernehmen sollen. Nur lag dieser im Sudetenland, und da hat das Schicksal, sprich der 2. Weltkrieg, meinen Tanten einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Denn die Familie meiner Mutter wurde aus „ihrem Paradies“ vertrieben. Mit dem letzten Güterzug  – so die Familien-Legende – wurden sie gegen ihren Willen aus der „Tschechei“ (die in den Erzählungen meiner Mutter in Wirklichkeit überwiegend deutsch war) ins ungeliebte Bayern verfrachtet. Meine Mutter dagegen musste ihr kleines Paradies in Lublitz  schon früher verlassen, weil für sie kein Erbteil übrig war und sie deshalb in der Stadt Troppau in ein Internat gehen und studieren musste.

So konnte sie nach der Vertreibung Lehrerin werden und es ging ihr im Leben viel besser als ihren beiden Schwestern. Die wirklich schlimme Kriegsschicksale hatten. Vielleicht berichte ich da ein anderes Mal darüber.

Aber dann meine Mutter meinen Vater im Bus kennengelernt. Der war ein junger Student aus Berlin, der dummerweise 1919 geboren wurde und so in allen Kriegsjahre an den verschiedensten Fronten der großen Kriegsnation Deutschland mit Begeisterung im Einsatz war. In den Jahren nach der Kapitulation schlug er sich als Busfahrer durch und landete bei der Eisenbahn.

Und so bin ich dann entstanden. Komischerweise hat meine Mutter ihr ganzes Leben nicht verstanden, wieviel Glück sie hatte und bis zu ihrem Tod darunter gelitten, dass sie schon als junges Mädchen von zu Haus weg musste …

Geld ist nicht alles im Leben

Ich war oft in Thannhausen bei meinen Tanten. Das waren oft schöne Sonntage. Der Familie Zimmermann in Thannhausen habe ich ihren Reichtum gegönnt. Denn die produzierten gute Wurst und Fleischwaren, von der ich ab und zu etwas abbekam. Die Wurstwaren haben mir sehr gut geschmeckt. Die Produkte von Zimmermann wurden in kurzen Güterzügen nach Dinkelscherben gefahren und gingen dann weiter in die Welt. Das war für mich so etwas wie Wirtschaftswunder pur.

Und hat mir imponiert. Noch mehr hat mich allerdings beeindruckt, dass die Wurstproduzenten auch noch ein Flugzeug und wie es sich damals gehörte, auf der Wiese hinter Villa und Fabrik eine eigene Landebahn hatten.
😉 Ich vermute mal, dass das ein „Geschäfts-Flieger“ war.
So waren die Zeiten.

🙂 Obwohl mir die Ärzte meiner Kindheit so reich vorgekommen waren, wollte ich nie Arzt werden. Das war mir (und scheint mir heute noch mehr zu sein) ein zu unmoralischer Beruf. Unternehmer konnte ich mir damals schon eher vorstellen. Bin das dann aber auch eher zufällig geworden. Und glücklicherweise kein Medizin-Unternehmer.
So ist das Leben.

RMD

P.S.
Alle diese Gedanken schreibe ich eigentlich nur so für mich auf.

2 Antworten

  1. In der Stadt gab’s damals schon Internet ;-)?

    „.. und sie stattdessen in die Stadt in ein Internet gehen und studieren musste.“

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