Werner Schlierf – „Kiesgruben-Krattler“

Oder auch:

Geschichten aus einer schadhaften Zeit

Von Werner Schlierf habe ich mal ein wunderbares Theaterstück gesehen: „Chewing Gum & Chesterfield„. Das wurde Ende der 80iger von einem Laientheater mit soviel Herzblut in der Turnhalle des MTV München in der Isarvorstadt gespielt, dass ich gleich mehrmals im Stück war.

Zur Weihnachtsfeier damals noch  der InterFace Connection haben wir unsere Mitarbeiter und Kunden in die Turnhalle eingeladen und das Stück für sie nochmal aufführen lassen. Es wurde eine unserer schönsten Weihnachtsfeiern.

Werner Schlierf hat auch Bücher geschrieben. In seinem „Kiesgruben-Krattler“ geht es um die Zeit zum Ende des zweiten Weltkrieges und die anschließenden Jahre. Entdeckt habe ich es in der „Sonntagsbeilage“ von Michael Skasa, der jeden Sonntag im 2. Programm des bayerischen Rundfunks um 10 Uhr ein besonderes Thema mit gesprochenen Texten und passender Musik behandelt. Die Sendung wird um 17:00 am selben Tag wiederholt. Eine Radiosendung, die ich nur jedem ans Herz legen kann.

Am Sonntag vor drei Wochen wurde in dieser Sendung der sechsundsechzigste Jahrestag der Kapitulation Deutschlands behandelt. Eine Geschichte aus dem Buch von Werner Schlierf war auch dabei. Die fand ich sehr bemerkenswert.

Also wollte ich das Buch kaufen. Zuerst mal hatte ich Pech – bei den üblichen Quellen im Internet war es überall vergriffen. Über „bookfinder“ habe ich dann eine Bücherei in Frankreich entdeckt und es zu einem vernünftigen Preis erwerben können.

Ein paar Geschichten habe ich jetzt schon gelesen. Und obwohl die Geschichten ein klein wenig vor meiner Zeit gespielt haben, kommen sie mir so bekannt vor. Der Krieg hat in Deutschland noch lange nachgewirkt.

Die „Kiesgruben-Krattler“-Zeiten haben sich bis in die 60iger gestreckt. Wir haben sie im verrufenen „Hank’s Night Club“ in Oberhausen oder dem auch nicht besseren „Playboy“ in Pfersee beerdigt. Das waren Musikschuppen, in denen sich normalerweise nur die schwarzen GI’s von der US-Infanterie tummelten. Es tut mir heute noch Leid um diese besonderen Orte des Lasters, die mit dem der US-Army abzog und dem Ende von Augsburg als Garnisonsstadt sofort schließen mussten.

Ab und zu waren da auch ein paar halbwüchsige junge Deutsche drin. Die waren gerade flügge geworden und riskierten ihre Schule. Das waren wir in unseren Nyltest-Hemden und Hosen aus Kunstfasern vom C&A. Aus der Welt des deutschen Spießbürgertum stammend bestaunten wir das fremde Leben. Und mogelten uns in den verrufenen und strengstens verbotenen Sündenpfuhl.

Die Luft zum Schneiden – eine Mischung aus Rauch und billigem Parfüm. Die Schwarzen tanzten mit einer uns unbekannten Hingabe zu ihrer Musik. In Jeans  und T-Shirts über dem schwitzenden Oberkörper. Funkelnde Augen, originelle Mützen auf kahlen Schädeln. Echte und nicht echte Blondinen aller Altersklassen boten ihre Dienste an.

Vielleicht war auch ab und zu so etwas wie Liebe dabei. Wir erlebten die Schlägereien vor den Diskos, das brutale Eingreifen der MP, ganz neue Varianten vom Glücksspiel und sexueller Abhängigkeit und nicht zuletzt weinende Männer vor ihrer Abreise nach Vietnam. Dann war da das Morgengrauen, wenn Freitags und Samstags um vier Uhr früh geschlossen wurde und man mit verrauchter Lunge an die frische Luft kam. Und im Sommer den Sonnenaufgang beim Heimradeln und das Erwischtwerden beim Schleichen in die elterliche Wohnung.

Der brave Jungmichel in einer Welt voller Emotion und Leidenschaft, aber auch Angst und Gewalt. Und dann ging alles ganz schnell, Oberstufe, Abitur, Studium und wir landeten in der heutigen Gesellschaft.

Das Buch gibt andere Episoden wieder. Es zeigt wie das alles los ging. Aus dem Elend ins Wirtschaftswunder. Man fühlt aber auch, dass es auch in dieser „schadhaften Zeit“ Gründe zum Leben gab. Genauso wie in unserer heutigen – auf eine ganz andere Art schadhaften Zeit.

So würde ich jedem, der sich noch an diese Zeit erinnern kann, die Lektüre dieses Buchs empfehlen. Es ist ein Wahnsinn. Aber Vorsicht – die Lektüre kann sentimental und betroffen machen.

RMD

Zum Autor:
Werner Schlierf, geboren am 17. Mai 1936 in München,  gestorben am 1. März 2007 ebenda, erlebte dort die Kriegs- und Besatzungszeit. Seit 1960 schrieb er Gedichte, Theaterstücke und Erzählungen, 1963 war seine erste Buchveröffentlichung. Ausgezeichnet mit dem Bayerischen Romanpreis.

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