Carl und Gerlinde (Folge 70)
Soviel Bier konnte Carl an normalen Arbeitstagen gar nicht verarbeiten, dass er die aufkeimende Sorge um Gerlinde wegschwemmen hätte können: ein skurriler Auftritt folgte dem anderen in letzter Zeit! Gerade so als hätte er in der Firma nicht genug um die Ohren mit dem ganzen ‚Schutzmasken – Stress‘! Irgendwann und irgendwo musste er sich doch auch entspannen und erholen können, in diesem verdammten Corona – Chaos, oder?
Aber nein, wenn er, heim kam, war nicht mit Entspannung zu rechnen sondern mit neuesten Corona – Schreckensmeldungen, von denen sein aufgewecktes Gerlindchen immer eine bereit hielt! Und natürlich auch sofort passende Verbesserungsvorschläge, die er meist nur in quälend langen Streitgesprächen abwiegeln und neutralisieren konnte:
Erst war es das ‚unmenschliche‘ Schweinemassaker bei Tönnies gewesen, dem sie mit Poesie beizukommen versuchte.
Dann überfiel sie ihn – natürlich zu seinem eigenen Schutz – mit der hervorragend ausgeklügelten ‚Wohnzimmerteilung‘ samt getrennter Schlafzimmer und Plexiglaswand in der Küche, was angeblich ganz einfach und kostengünstig zu bewerkstelligen war, wenn er sich bloß für ein paar Tage bei Kurt und Hannelore einquartierte.
Und im kaum begonnenen Jahr 2021 steckte sie ihr neugieriges Näschen – zur Abwechslung online – schon wieder in ein Psychologie Seminar der örtlichen Volkshochschule.
Schlimm war das – wirklich schlimm! Doch noch schlimmer war die Perspektive: womit kam sie denn als nächstes daher?
Nun seit gestern Abend wusste er womit – nämlich der ‚erlernten Hilflosigkeit‘, von der sie im Seminar erfahren hatte. Und mit der sie ihn offensichtlich ab sofort zu traktieren gedachte, da diese Hilflosigkeit sogar experimentell abgesichert war…
„Stell dir vor, Carl!, bereits 1967, gab es dazu ein ganz berühmtes Experiment mit Ratten“, sagte sie sichtlich gut aufgelegt, mit einem Gläschen Sekt, während er vollkommen geplättet auf dem Sofa lag und an einer Flasche naturtrübem Bier nuckelte.
„In einem Käfig, der durch einen Schieber in der Mitte geteilt war“, sagte Gerlinde mit ernster Miene und ganz bei der Sache, „waren mehrere Ratten untergebracht, die sich da vollkommen frei bewegen konnten. Doch dann trieb man eines Tages die armen Tiere plötzlich in die linke Käfighälfte, machte den Gitterschieber zu und legte eine elektrische Spannung auf den dafür vorbereiteten Boden der leeren, rechten Käfighälfte! Und was meinst du, Carl, was passiert ist?“
„Du wirst mir es gleich sagen, Gerlindchen“,stöhnte Carl und schluckte noch heftiger aus seiner Bierflasche.
„Na – als der Schieber gezogen wurde, drängten natürlich die Ratten in einem bunten Kuddelmuddel sofort in die leere Käfighälfte, bekamen aber dort allesamt mächtige elektrische Schläge auf ihre flinken Rattenfüßchen, so dass sie sich fluchtartig, mit lautem Gepfeife, wieder in die linke Käfighälfte zurück zogen.“
„Hm – und was dann?“, so Carl.
„Na – ja am nächsten Tag gab es das gleiche Prozedere und in den Tagen danach wieder und wieder – bis sich die armen Tierchen endlich nicht mehr aus der linken Käfighälfte herauswagten, egal wie lange der Schieber offen stand…“
„Und?“
„Nichts und? Die Ratten begnügten sich nach dieser Tortur einfach mit dem Platz, den sie in der linken Käfighälfte hatten! Selbst dann, als man vom Boden der rechten Käfighälfte die elektrische Spannung weggenommen hatte, blieben die Ratten brav in ihrer ursprünglichen Käfighälfte – und wirkten da komplett zufrieden…“
„Und was willst du und dein Seminar mir damit sagen, liebe Gerlinde?“
„Ich will damit sagen, dass es uns genau so gehen wird, wenn Corona und diese ganze Einschränkungstortur noch lange andauert! Denn wenn dieser Corona – Alptraum eines fernen Tages wirklich vorbei sein sollte, und wir von einem Tag auf den anderen plötzlich wieder alles dürfen, dann könnte es passieren, dass wir – ähnlich wie die Ratten ihren zusätzlichen Käfigraum – viele kulturelle Errungenschaften, wie Theater, Konzerte, Kinos, Fußballstadien, Restaurants, Geschäfte, Präsenz–Unterricht in Schulen, umständliches Reisen ins ferne Ausland und so weiter und so weiter, gar nicht mehr brauchen – ja vielleicht überhaupt nicht mehr wollen – sondern mit dem ‚ausgedünntem Leben‘ zufrieden sind, an das wir uns in der Corona – Zeit gewöhnt haben!“
„Und das glaubst du wirklich, Gerlinde?“fragte Carl sichtlich erstaunt und irritiert.
„Könnte zumindest teilweise passieren: denn bei Kranken, Alten oder sonst Beeinträchtigten, finden jedenfalls tagtäglich ähnliche Prozesse statt und lassen diese dennoch weiter am Leben hängen– und sich an dem, was sie noch können und dürfen, erfreuen!“
„Mir würde schon reichen wenn ich genug Bier hätte!“ stöhnte Carl, schob aber sofort hastig nach: „Bier und natürlich dich, mein Gerlindchen!“
„Na – da hast ja du gerade noch die Kurve gekriegt, lieber Carl, bevor ich dich nicht in die ‚erlernte‘, sondern wie schon einmal, in die ‚zwangsweise Hilflosigkeit‘ geschickt hätte…
KH