Also das hatte er sich damals geschworen: wenn er, ‚Colonel’ Vatter – mit zwei „t“ – Siebzig würde und noch bei klarem Verstand wäre – dann würde er vor der gesamten Großfamilie Vatter – insbesondere seiner Frau Cornelia, Conny seiner Tochter und  seinem Sohn Corni, eine ‚Lebensbilanz’ erstellen! Und da er nicht umsonst von frühester Kindheit an mit dem Nicknamen ‚Colonel’ bedacht worden war, stand damit die ‚gnadenlose Bilanzierung seines Lebens’ unverrückbar fest.

Das heißt so eine ‚Art Bilanzierung’ stand fest! Wie bei der doppelten Buchführung!

Nämlich ein nüchternes Nebeneinander der ‚Aktiva’ und ‚Passiva’ mit anschließender ‚Saldierung’ wie auf einer Waage – stand fest!

Schonungslos und selbstkritisch wollte er unter den ‚Aktiva’ alles benennen, was ihm im Laufe seines großartigen Lebens gelungen war und wie er sämtliche Loser hinter sich gelassen hatte. Und bei den ‚Passiva’ natürlich all das, was den anderen misslungen war! Akribisch und vorurteilslos wollte er deren Misserfolge auflisten, wie sich das nach guter, alter Buchhaltermanier gehörte!

Nach seiner Meinung sollte nämlich jeder aufrechte Mann gegen Ende seines Lebens neutral und uneitel so eine Bilanz ziehen! Eine Bilanz bei der glasklar fokussiert und bewertet wird wo Erfolge vorliegen und wo andere versagt haben.

Selbst die eigene Familie durfte bei einer derartigen Bilanzierung nicht geschont werden, wenn sie denn mit einbezogen werden sollte.

Aber dann musste auch alles auf den Tisch! Und wenn’s nur der Esstisch war – weil der die größte Tafelfläche hatte. Für seine geliebte Cornelia natürlich ein Alptraum: denn dieser Esstisch quoll über vor steinharten Frühstückseiern, zähen Rinderbraten, verkokelten Schnitzeln, halbgaren Hühnerschenkeln, breiigen Bohnen, ausgehärtetem Milchreis und vielen, vielen anderen ‚Köstlichkeiten’ aus ihrer Küche!

Aber nach einem kurzen hysterischen Schreianfall hätte sie sich bestimmt eingekriegt und eingesehen, dass so eine Bilanzierung nur Sinn machte, wenn mit größtmöglicher Ehrlichkeit an sie herangegangen wurde.

Und wäre auf diesem ‚Esstisch der Lebensleistungen’ dann wirklich kein Plätzchen mehr frei gewesen, da etwa auch Conny und Corni ihre ‚Versagenspakete’ verstohlen hinzugefügt hätten, dann wäre er, der ‚Colonel’, natürlich bereit gewesen seine ‚Palette der Erfolge’ auch unter den Tisch zu platzieren. Schließlich war da jede Menge Platz und Conny und Corni hätten sehr anschaulich lernen können, wie die deutsche Spruchweisheit ‚Bescheidenheit ist eine Zier’ nicht nur plakativ vorgezeigt, sondern auch gelebt werden kann! Und hätten damit ganz praktisch erfahren, was die Kanzlerin unlängst gemeint hatte, als sie sagte, dass nur unsere ‚Werte uns einen Begriff von Heimat gäben’…

Ursprünglich dachte er ja, dass so eine ‚Lebensbilanz’ durchaus auch als eine Art ‚Zwischenbericht’, auf speziell Lebensabschnitte fokussiert werden konnte und sich beispielsweise in geeignetem Rahmen schon zu seinem Fünfzigsten Geburtstag gut machen würde – insbesondere bei seiner beispiellosen Karriere!

Doch leider drehte dann wenige Tage vorher seine geliebte Cornelia von einem Tag auf den anderen durch und wollte sich urplötzlich scheiden lassen. Nur weil sie wieder einmal aus einer Mücke einen Elefanten machte, der dieses Mal Marianne hieß! Dabei hatte Cornelia selbst diese Marianne in die Familie eingeführt. Gegen den Willen des ‚Colonels’!

Mein Gott wie himmelte sie die viel jüngere Marianne an! Ein Herz und eine Seele waren die beiden! Und jede Shoppingtour mit ihr, war wie ein Blick ins Paradies gefeiert worden. Cornelia konnte und wollte einfach nicht sehen, dass dieses goldige Mariannchen nur Unfrieden in die harmonische Familie Vatter trug.

Ja er, der ‚Colonel’, musste damals tatsächlich selbst Hand an diese Marianne legen und ihr eine Schranke nach der anderen aufzeigen, die sie nicht zu übertreten hatte – die sie aber immer wieder von neuem aufgezeigt bekommen wollte. Schlimm war das gewesen – an manchen Tagen hatte sie – kaum zu glauben –  bis zu drei Schranken übersteigen wollen!

Letztlich war der ‚Colonel’ heilfroh gewesen als Cornelia endlich eingesehen hatte, dass diese Marianne weg musste. Und zwar unverzüglich! Dass sich Cornelia dann aber in einer Art somnambulen Schockzustand auch gleich scheiden lassen wollte, war übertrieben und bedurfte dringend ärztlicher Behandlung. Natürlich ließ der ‚Colonel’ seiner geliebten Cornelia gegenüber alle nur denkbare Rücksicht walten und verzichtete ihretwegen auch ohne jedes weitere Wort auf den vorhin schon erwähnten ersten ‚Lebensbilanzzwischenbericht’ anlässlich seines Fünfzigsten Geburtstages: schließlich wäre ja in der geplanten Bilanzierung sehr unschön unter den ‚Passiva’ Cornelias Scheidungswunsch gestanden, während er unter die ‚Aktiva’ sein damaliges Aufrücken in den Konzernvorstand platzieren hätte müssen, wenn das Ganze Sinn machen und nicht nur eine plumpe Umdeutung der Wirklichkeit sein sollte.

Aber das wollte er natürlich Cornelia nicht antun! Die war verzweifelt genug!

Auch die Kinder waren dagegen gewesen. Die hatten ja auch kaum etwas vorzuweisen, was unter ‚Aktiva’ verbucht werden hätte können, so dass doch nur wieder er einsam und verlassen dort aufgekreuzt wäre…

Nein – das war schon gut gewesen, dass er damals zum Wohle aller auf diese erste ‚partielle Lebensbilanz’ verzichtet hatte – ein ‚Colonel’ konnte das unschwer verkraften!

Anlässlich des Sechzigsten Geburtstages hätte sich nach der damaligen Logik erneut eine ‚Bilanzzwischenberichtschance’ aufgetan! Er war auch bereit dazu gewesen und hatte Unmengen an Material zusammengetragen und aufgelistet. Aber dann kam dieser unsägliche Datendiebstahl in Mode, bei dem illegal erworbene Informationen über diverse Schweizer Konten den deutschen Finanzbehörden zum Kauf angeboten worden waren. Seit ewigen Zeiten war aus der ganzen Welt auf diesen Konten Schwarzgeld geparkt worden. Und siehe da, urplötzlich war jeder der ein, zwei Milliönchen mehr besaß ein Steuerhinterzieher – und weiß Gott was noch alles!

Klar, dass der ‚Colonel’ da seinen Kindern Conny und Corni ein leuchtendes Beispiel geben und den beiden mit einer der ersten Selbstanzeigen in Deutschland demonstrieren wollte, dass man keine Steuern hinterzog! Und dass man bei einer weißen Weste auch keinerlei Angst vor rechtstaatlichen Maßnahmen haben musste, die sich da plötzlich allerorts in Bewegung zu setzten begannen.

Als sich dann aber überraschend eine Woche vor seinem Geburtstag die Steuerfahnder zu eine Art ‚Vorfeier’ selbst einluden, meinte seine geliebte Cornelia, dass dieses eine Mal eher eine Feier im engsten Familienkreis angemessen wäre. Da ihre Nerven ohnehin stark angegriffen waren, stimmte der ‚Colonel’ natürlich sofort zu und verzichtete bei seinen wenigen Dankesworten auf jede Andeutung einer ‚Lebensbilanzierung’, da er ja bei seinem rigorosen Hang zu Ehrlichkeit und ungeschminkter Wahrheit doch nur wieder Unschönes aus seinem Umfeld hoch gewirbelt hätte. Von den immensen Schwierigkeiten, die sich durch die sehr angegriffene Gesundheit seiner hoch betagten Mutter und seinem noch älteren Vater  ergeben hatten, wollte er gar nicht reden. Beide hatten das anschließende Debakel der Europäischen Finanzwelt nicht lange mehr überlebt – dazu hatten sie viel zu viel Geld verloren…

Zu seinem Siebzigsten Geburtstag aber –  sollte es nun endlich mit der ‚Lebensbilanzierung’ klappen!

Zu mindest einer verknappten Version!

Alles Störende war ja nun weitgehend ausgeschaltet oder hatte sich selbst erledigt: wie etwa Cornelia, die sich vor fünf Jahren von ihrem ‚Colonel’ getrennt hatte und mit einem Musiker in Belgien lebte. Conny ging es angeblich in USA gut mit ihrer Familie, und Corni war in England Direktor eines bedeutenden Bankhauses.

Das Problem war allerdings jetzt, dass zwar niemand mehr störte, aber auch niemand mehr da war, dem er seine grandiosen Erfolge erzählen hätte können, außer den beiden versoffenen Neffen und der schielenden Cousine, mit der er seit dreißig Jahren kein Wort mehr gesprochen hatte! Und Marianne natürlich, mit der er seit sechs Jahren zusammenlebte, da sie nie aufgegeben hatte, alle ihr im Weg stehenden Schranken auch weiterhin zu durchbrechen!

Doch Marianne war zwar eine wundervoll, attraktive Frau, hatte aber keinerlei Verständnis für seine fast schon ‚krankhaft chronische Selbstbeweihräucherung’, wie sie sagte: im Gegenteil sie wollte selbst bewundert werden! Und all der Kram aus der Vergangenheit konnte ihr wirklich gestohlen bleiben!

Aber wenn er – der ‚Colonel’ – schon das Bedürfnis nach einer Bilanzierung seines Lebens verspürte, dann sollte er doch diese großartige Lebensleistung selbst zu Papier bringen! Quasi als Vermächtnis an die gesamte Familie Vatter. Und Zeit hätte er doch jetzt auch, oder?

Mit diesen Worten drückte sie ihrem ‚Colonel’ begleitet von einem hinreißenden Lächeln ein nagelneues, absperrbares, ledergebundenes Notizbuch in seine von Altersflecken übersäten Hände, sowie einen flüchtigen Kuss auf die ausgetrockneten Falten seiner bereits bis zum Nacken reichenden Stirn.

Doch wenn ihm das alles zu mühselig sein sollte, säuselte Mariannchen, könnte er ja auch direkt an Inge, der Putze, die ihn wie immer bestens umsorgen werde, seine Lebensbilanz herantragen: da sie ihr Hörgerät ohnehin meist ausgestellt hatte, könnte er ihr ja tagtäglich aus seinem großartigen Leben berichten – und  dabei in einem Aufwasch auch alle kleinen, großen und noch größeren Schweinereien haarklein in seine Lebensbilanz mit aufnehmen! Da sei doch eine prima Beschäftigung für einen Mann in den besten Jahren! Und freudestrahlend teilte sie ihm – ohne Atem zu holen – mit, dass sie nun aber husch, husch zu ihrem Flugzeug müsste, da sie mit ihrem gemeinsamen Töchterchen Carola zum Golfen in die Algarve flöge! Dabei fächelte sie ihrem ‚Colonel’ atemlos selbst noch von der bereits offen stehenden Tür eine ganze Salve warmherzigster Küsschen zu…

KH

Eine Antwort

  1. Nach Lesen dieses Artikels musste ich doch ein paar Tage über mich und die Welt nachdenken. Danke Klaus!

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