V. Listvianka und Irkusk 5.6.09 – 8.6.09
Auf dem Bahnsteig erwarten uns das charmante Lächeln, die rotblonden Haare und himmelblauen Augen von Marina, der lokalen Repräsentantin unseres Tour Operators.
Langsam kämpft sich das Tageslicht durch dunkle Regenwolken. Es ist 6:10, leichter Nieselregen und Temperaturen um die 10 Grad sind der Willkommensgruss von Sibirien.
Marina wird sich um unsere Visa für die Mongolei kümmern, übergibt uns die Bahntickets nach Ulan Baator und setzt uns in ein Taxi in Richtung Listvianka. Schade, wir hätten gern nähere Bekanntschaft mit dieser hübschen, jungen Dame gemacht.
Listvianka
Listvianka schlummert am Ufer des Baikalsees, von Irkusk sind es 70km. Die Landschaft ist hügelig, auf den Hängen wachsen Birken, Tannen und Lärchen.
Als wir den See erreichen, ist aus dem Nieseln ein zügiger Dauerregen geworden. Der „Badeort“ ist ein kleines Strassendorf, auf der einen Seite die Häuser, gegenüber der See. Unser Logis ist in der Wohnung einer ortsansässigen Familie, wir sind gespannt…
Schliesslich hält das Taxi vor einer mausgrauen, notdürftig in Stand gehaltenen Mietskaserne, die ihre besten Jahre wohl in den frühen Sechzigern gesehen hat. Wir erwarten förmlich die Begrüssung durch einen missmutigen KP-Blockwart und die autoritäre Einweisung in ein frugales Quartier. Es kommt anders…
Am Eingang steht die lange, spindeldürre Silhouette der hellblonden Helena. Ihre extreme Schüchternheit verbirgt die Farbe ihrer Augen. Wir folgen ihr in einen primitiven aber blitzsauberen, graublauen Treppenaufgang. Sie wohnt bei einer Nachbarin, wir in ihren 4 Wänden.
Die Einrichtung ist vom Trödler, Vorhänge und Bodenbelag sind bräunlich, insgesamt ist es jedoch durchaus gemütlich. In der Küche stehen 3 Käfige mit 5 farbenfrohen tropischen Piepsern. Das Badezimmer entspricht dem Standard eines 3 Sterne Hotels. Wir sind zufrieden.
*
Es hat sich eingeregnet in Listvianka. Der Baikal wirkt wie geschmolzenes Blei unter metallisch blauen Wolken, ein uferloses Meer. Die Sicht ist kaum mehr als 200m.
Sommer und Saison beginnen hier Anfang Juli. Bis dahin sind die meisten Holzlauben mit ihren geschnitzten, hellgrünen oder hellblauen Fensterumrahmungen und den Plastikblumen hinter vergilbten Vorhängen verlassene, leblose Schalen in Kälte und Regen. Das Ambiente ist trostlos.
Auf dem winzigen Markt trotzen vereinzelte, bouriatische Fisch- und Souvenirhändlerinnen dem Wind, dem Wetter und dem chronischen Mangel an Kundschaft. Frisch geräucherter Omul ist eine absolute Delikatesse, ein forellenartiger Fisch, den man nur im Baikalsee fängt.
Die gelbe Fassade des Mayak Hotels signalisiert das einzige geöffnete Restaurant, Treffpunkt der wenigen Touristen, die sich in die feuchte Einöde Listviankas verirrt haben. Die Kellnerin Anastasia ist eine Augenweide: Frech wippt ihr hellblonder Pferdeschwanz, sanft blicken die blauen Augen, schelmisch lächelt der Mund unter der reizenden Stupsnase, stolz strafft der Busen die weisse Bluse. Die Kürze des Rocks offenbart die samtene Haut knackiger Waden und Schenkel. Leichtfüssigkeit und Haltung sind die einer Athletin oder Ballerina.
Wir sind begeistert…
Irkusk
Bei strömendem Regen steigen wir Sonntagfrüh erleichtert in den Bus nach Irkusk. Ein australischer Globetrotter meint: „Let’s get back to semi civilisation.“
Eine Stunde später ist vor den imposanten, neoklassischen Säulen des Hotels Europa zwar nicht eitel Sonnenschein aber immerhin trockenes Wetter. Die Empfangsdamen, zwei strahlend blonde Kreaturen, glänzen nicht nur durch ihre weiblichen Attribute, sondern auch durch fliessendes, einwandfreies Englisch. Das haben wir lange nicht erlebt.
In der Stadt, beeindrucken die Holzhäuser des längst vergangenen Grossbürgertums. Rundhölzer aus mächtigen Stämmen türmen sich bis zu zwei Stockwerke übereinander. Die verwaschenen Fassaden erzählen von Wind, Wetter, extremen Temperaturen und chronischem Mangel an Mitteln für Reparaturen. Die Erdgeschosse versinken teilweise im Sand bis zur halben Höhe der Fenster, die Schieflagen erinnern an sinkende Schiffe. Nur die fein geschnitzten, mit verbleichender Farbe bedeckten, Klöppelspitzen der Umrahmungen von Fenstern und Dach, zeugen noch von Reichtum und Pracht.
Der aufgeplatzte Asphalt von Bürgersteigen, Gehwegen und Strassen erinnert an Polen in den achtziger Jahren. Die Luxusboutiquen und shopping malls von Moskau sind in unerreichbarer Ferne.
Im Marktviertel herrscht pulsierendes Leben. Die Stände sind überladen mit frischem Obst und Gemüse, der Geruch von Fisch, Fleisch und Wurst vermischt sich mit dem Aroma orientalischer Gewürze. Schlitzäugige Bouriaten verkaufen Räucherwaren und Tragetaschen mit den Logos von Gucci, Versace, Boss…Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Es treffen sich Europa und Zentralasien, bunte Kopftücher und Miniröcke, Marlboro und Wasserpfeifen, Bouriaten und Weissrussen, gestern und heute.
Irkusk feiert den 350. Geburtstag. Die Festivitäten konzentrieren am Ufer des Angara, im Park und auf der Insel Yunost, im Süden des Stadtzentrums. Hier tönen russische Volksmusik, hard rock und rap in trauter Gemeinsamkeit, hier steigen Luftballons, fliegen Konfetti, hier flaniert die Jugend. Man trinkt viel Bier. Stimmung, Publikum und Attraktionen sind die einer kleinen Provinzkirmes im Deutschland vergangener Jahrzehnte.
Ich sage zu Alain: „Hier beherrscht man die Kunst mit wenig zufrieden zu sein.“
Praktische Hinweise
* Logis
Listvianka
28€ pro Nacht mit Frühstück für eine Zweizimmerwohnung. Das Frühstück ist reichhaltig, unter anderem Blinis, Räucherlachs, Lachseier u.s.w.
Irkusk
Hotel Europa
Baikalskaya Strasse 69
Man findet das Hotel im Internet bei den einschlägigen Anbietern
89€ pro Nacht inklusive Frühstück für ein winziges Zweibettzimmer. Hervorragendes Restaurant, gute Lage (10 Minuten zu Fuss bis zum Markt, Supermarkt gleich um die Ecke).
* Transport
Irkusk kann ohne weiteres zu Fuss besichtigt werden. Ansonsten Taxi oder Strassenbahn.
Irkusk – Listvianka 35€ mit dem Taxi
Listvianka – Irkusk 3€ mit dem Bus (die Haltestelle ist gegenüber vom Mayak Hotel)
* Verpflegung
Auf dem Markt von Listvianka kostet ein köstlich geräucherter Omul 1€.
Im Mayak Hotel oder im Hotel Europa kostet eine Mahlzeit mit Vorspeise und Getränk 20€ – 30€.
In Listvianka ist Selbstversorgung in örtlichen Geschäften kein Problem. In Irkusk kann man, bei nicht zu grossen Ansprüchen, ab 5€ essen.