XI. Tibet 20.6.09 – 25.6.09
Die schmucklose, erschlagende Monumentalität der Bahnhofshalle wirkt wie ein Mahnmal: Hier ist China, you are in China!!! Führer, Chauffeur und Toyota Vierradantrieb erwarten uns.
Lhasa
Der erste Eindruck ist eher ernüchternd. Breite Strassen kanalisieren mässigen Verkehr, vorbei an Einkaufszentren, Banken, Restaurants, Elektroläden und Handyreklamen.
Die Passanten tragen die globale Mode des 21. Jahrhunderts. Lhasa ist mit 360.000 Einwohnern vor allen Dingen eine kleine, chinesische Grossstadt.
Glücklicherweise geht es auch anders.
Greifbar nah und doch unerreichbar fern wächst der Potala, gleich einer Vision überirdischer Realität, aus den Felsen des Roten Hügels, empor in den tiefblauen Himmel. Furchtloser Wächter über Glauben und Tradition Tibets, Monument einer anderen Welt. Die Stadt liegt ihm ehrerbietig zu Füssen, kein moderner Bau erreicht auch nur annähernd seine Dimensionen. Zur Zeit der Dalai Lamas war er Kloster sowie Wohnsitz der religiösen und weltlichen Autorität. Über dem weissgetünchten, festungsartigen Sockelbau, den Wehrmauern, breit angelegten Treppen und schmalen Fenstern, erhebt sich senkrecht der rotbraune Palast, leuchten glitzernd vergoldete Dächer. Potala ist nicht nur emblematisches Postkartenmotiv, sondern auch Symbol einer schrankenlosen Macht, zu der sich zwangsläufig der demütige Blick erhebt.
Von Sonnenaufgang bis lange nach der Dämmerung bilden tausende von Pilgern eine nie abreissende Prozession um das zum Museum erstarrte Heiligtum. Die Umrundung erfolgt im Uhrzeigersinn, bei ständigem Drehen der unzähligen Gebetsmühlen. Gedrungene Gestalten hüllen sich in knöchellange Chulas aus dunklem Tuch, einziger Schmuck sind farbig bestickte Schürzen und weite Seidenhemden. Die Gesichter sind zerfurcht, wie wettergegerbtes Leder, die pechschwarzen Haare werden in Knoten oder langen Zöpfen getragen. Es sind ausschliesslich Tibetaner, überwiegend Frauen.
Der Tourist hat Zutritt zu einem Teil des Palastes. Pässe müssen am Kartenschalter hinterlegt werden. Prachtvolle Portale erschliessen endlose Treppen. Farbenfroh verschachteln sich Etagen, Innenhöfe, Vorsprünge, Rundungen und bunte Baldachine. Im diffusen Licht schmaler Fenster erzählen bunte Wandgemälde, reich geschnitztes Deckengebälk, kostbare Möbel, goldene Schreine, würdige Buddhas nicht nur von tiefer Religiosität sondern auch von Pracht, Prunk und Reichtum der vergangenen Herrscher.
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Vor den vergoldeten Kupferdächern über der Eingangsfront des Jokhang Tempels, nur 2 Blocks entfernt von den glitzernden Schaufenstern und bunten Reklamen der chinesischen Konsumgesellschaft, drängen sich die Gläubigen bei einer rituellen Niederwerfung, die an Unterwürfigkeit, Hingabe und Kräfteverschleiss kaum zu überbieten ist.
Stehend sind die Hände über der Brust gekreuzt und werden, wie beim Gebet, zur Stirn zur Kehle und zum Herzen geführt. Die Beine sind, in der Kniekehle, mit einer Kordel zusammengebunden, Knie und Handflächen geschützt mit Gummistossdämpfern und Holzgleiten. Nach dem Kniefall streckt sich der Körper in voller Länge bäuchlings auf dem Granitpflaster aus. Die Hände werden über dem Kopf gefaltet. Mit einer liegestützartigen Bewegung richtet sich zunächst der Oberkörper auf, ein kräftiger Stoss der Beine führt zum Stehen. Das Ganze wird 3, 27 oder 108 Mal wiederholt.
In den Innenräumen verschwimmen die Konturen im spärlichen Schein flackernder Kerzen. Schatten tanzen auf dem goldenen Lächeln schweigender Buddhas. Schemenhaft huschen gebückte Gestalten.
Aus Thermosflaschen fliesst geschmolzene Yakbutter, Nahrung von Licht und russigem Rauch. Bonzen schlürfen auf leisen Sandalen, gemurmelte Inkantationen versiegen in dunkler Stille.
Auf dem Barkhor, Vorplatz des Tempels, bieten unzählige Stände eine endlose Auswahl an religiösen und profanen Souvenirs. Vermummte Händlerinnen locken Touristen mit einem zahnlos lachenden: „I love you“ und verstummen ratlos bei der Antwort: „Come and kiss me“.
Das bunte Treiben, die weisse Tünche, die tibetanischen Zeichen und Schilder auf den Fassaden der Altstadt können die traurige, kommunistische Architektur des alten Lhasa nur schwer verschleiern. Die Häuser sind fantasielose, rechteckige Kästen aus schiefen Reihen unregelmässiger Hohlblöcke, von unwilligen Händen auf die Schnelle zusammengeklaubt. An Eingängen und Fenstern wehen Gebetswimpel. An Strassenkreuzungen, auf Dächern wacht, mehr oder weniger diskret, chinesisches Militär.
HPK