„Ich werde nicht gehen. Nicht aus diesem Haus. Egal welche Richtung vor mir liegt, es ist die Falsche. Sie warten doch nur darauf.
Gestern wäre es noch möglich gewesen. Entweder hätte ich den Weg über Land eingeschlagen, über die Berge, oder ich hätte es bis zur Küste geschafft. Das Schiff wartet, das den Kampf gegen den Sturm aufnimmt. Aber ich weiss, es ist dem Untergang geweiht.
In meiner Situation gibt es keinen Ausweg. Die Häscher haben sich aufgestellt. Wenn es einmal soweit gekommen ist, führt jeder Schritt in die Falle. Man hat es mir nicht gesagt, man hat mich beruhigt, getröstet, in Sicherheit gewiegt. Und plötzlich über Nacht kehrt sich alles ins Gegenteil. Alles was gestern galt ist ungültig. Die neuen Regeln kenne ich nicht.
Was bleibt mir?
Ich schließe die Türen, die Fenster. Ich verriegle auch den Keller, den Hintereingang, den Weg übers Dach. Ich lösche die Lichter. Stelle das Atmen ein. Lausche. Ich werde sie hören, wenn sie kommen. Wenn sie nicht kommen, wird bald alles zu Ende sein.
Nein. Gehen werde ich auf keinen Fall“…
Ja. Das ist es, sagte ich laut zu mir selbst und las den eben geschriebenen Text ein letztes Mal durch.
Zufrieden lehnte ich mich zurück. Genüsslich nippte ich an meinem Cotes du Ventoux. Köstlich! Genau das hatte ich beabsichtigt. Mit wenigen Zeilen eine ausweglose Situation zu Papier bringen. Der Protagonist sollte keine Chance haben. Für mich eine Horrorvorstellung. Ich hasste nichts mehr als Ausweglosigkeit. Vielleicht spielte ich deswegen immer wieder solche Situationen in Gedanken durch. Wie andere Schachpartien.
Hier gab es keinen Ausweg, es sei denn der Protagonist hätte sich unsichtbar machen können oder wäre wie Spiderman über jedes Hindernis hinweggestiegen. Dem bedauernswerten Mann blieb gar nichts anderes übrig, als sich zu verbarrikadieren und auf ein Wunder zu hoffen. Dass er nicht aufgeben wollte, sprach für einen starken Charakter. Durchhalten bis zum Untergang. Bewundernswert. Ich hätte diese Kraft nicht.
Wahrscheinlich hätte ich vorher Schluss gemacht. Schnell und schmerzlos. Entweder mit einem Revolver oder mit Tabletten. Zum Glück war ich noch nie in so eine Situation geraten.
Bei mir war das immer nur Spiel. Und wenn ich genug hatte, hörte ich einfach auf und lenkte mich ab. Entweder las ich in einem der vielen angefangenen Bücher oder ich entschloss mich ganz spontan zu einem Spaziergang. Einfach nur durch die Stadt. Völlig planlos.
Vielleicht sollte ich das jetzt auch tun. Es war zwar schon dunkel, aber warum nicht? Regnete es noch ?
Nein. Es hatte aufgehört!
Komisch, der schwarze Golf stand immer noch unten.
Und wenn mich nicht alles täuschte, saß jetzt auch jemand drinnen. Leider konnte ich vom sechsten Stockwerk aus nicht erkennen, ob es noch der Typ von heute Mittag war.
Aber vielleicht war es auch eine Frau? Von hier oben war das nicht zu erkennen.
Der Golf war mir nur aufgefallen, da auf dieser Straßenseite vor unserem Haus nie jemand parkt. Durch die Linkskurve war die Stelle viel zu unübersichtlich.
Im Moment schien die Person im Auto auch wieder zu mir hoch zu schauen.
Oder bildete ich mir das nur ein?
Wer sollte mich denn beobachten? So unbedeutend wie ich war.
Unentschlossen ging ich im Zimmer auf und ab. Aus einem diffusen Gefühl nach Sicherheit drehte ich auch das Licht ab und ging im Dunkeln weiter. Ich hatte keine Lust mehr auf einen Stadtbummel. Vielleicht wäre mir der Typ auch nachgegangen. Das musste nicht sein. Ich ging auch nicht ans Telefon, das komischer Weise seit Mittag immer zur vollen Stunde läutete, ohne dass sich jemand meldete.
Gab es da einen Zusammenhang?
Sicher alles nur Zufall. Da musste man cool bleiben und sich nicht irre machen lassen.
Plötzlich läutete es an der Eingangstür.
Wer wollte mich jetzt noch sprechen. Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr.
Sicherheitshalber lugte ich kurz aus meinem unbeleuchteten Fenster. Das Auto war jetzt unbesetzt.
Nein. Da saß niemand mehr drinnen.
War es vielleicht dieser Mann, der an der Tür klingelte? Oder die Frau?
Etwas bang war mir plötzlich schon, wenn ich ehrlich war, und ich verzichtete auch durch den Spion zu schauen. Ich tat so, als wär ich nicht in der Wohnung. Ich vermied jede Art von Geräusch, obgleich ich es lächerlich fand, mich genau so zu verhalten, wie der Mann in meiner Geschichte. Das war doch absurd, oder?
Aber mit wem redete ich denn? Etwa mit mir selbst?
Wie war die Person vor meiner Eingangstür überhaupt ins Haus gekommen?
Es läutete noch einmal. Dieses Mal sogar unanständig lange.
Ich schlich mich zur Eingangstür und legte vorsichtig das linke Ohr an die Tür, mit dem ich besser hörte als mit dem rechten. Aber da war nichts. Weder ein Atmen. Noch Schritte. Nichts. Den Schlüssel hatte ich von innen stecken lassen. Das war gut so. Da konnte wenigstens niemand von außen aufsperren.
Mir wurde auf einmal bewusst, dass ich in meiner eigenen Wohnung wie ein Dieb herumschlich. Aber war ich wirklich in meiner Wohnung? Alles kam mir so fremd vor in der Dunkelheit. Die klobige Kleiderablage in der Diele, die verschlossenen Türen zu den anderen Räumen, der Tisch im Wohnzimmer, der sich wie ein sprungbereites Tier schemenhaft in der Dunkelheit ausnahm. Alles wirkte fremd. Ja ich fand mich selber fremd.
Welcher Tag war denn heute? Montag? Dienstag? Oder Sonntag?
Ich hatte keine Ahnung. Typischer Fall von Blackout, dachte ich und war froh, dass ich überhaupt noch in der Lage war zu denken. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.
Mit neuer Zuversicht setzte ich mich ganz leise wieder an meinen Rechner.
Akribisch ging ich noch einmal meinen Text durch. Vielleicht gab es doch noch eine Chance zu entkommen. Minutenlang zermarterte ich mein geplagtes Gehirn.
Aber ich fand keine Lücke. Es gab kein Entkommen.
Nun schon etwas verzagt, landete ich wieder bei der letzten Zeile des Textes, wo der Protagonist sagt: Nein. Gehen werde ich auf keinen Fall. Punkt. Das war klar und endgütig! Bei seinem unbeugsamen Charakter gab es keine Kompromissmöglichkeit.
Dann plötzlich die Erleuchtung: wie wär’s denn mit Tragen, dachte ich und hätte am liebsten laut aufgejauchzt…Der Typ konnte sich doch tragen lassen, wenn er schon nicht gehen wollte. Oder nicht konnte. Das war’s doch!
Vielleicht hatte er ohnehin zu reichlich getankt in seiner Verzweiflung. Wer hätte ihm das verargen können. In so einer vertrackten Situation!
Er brauchte doch nur einen Krankenwagen rufen, einen Herzanfall vortäuschen und sich aus dem Haus tragen lassen. Schließlich hatte er ja nur gesagt, dass er auf keinen Fall gehen werde. Getragen zu werden, hatte er nicht ausgeschlossen.
Und im Krankenhaus war alles ein neues Spiel, da gab es ganz neue Möglichkeiten zur Flucht. Wer weiß, ob er überhaupt dort ankam?
Super, sagte ich und gratulierte mir zu meiner blendenden Idee.
Jetzt hatte ich aber einen kräftigen Schluck verdient. Vielleicht sogar zwei oder drei oder vier…. Köpfchen musste man haben. Ja!
Den Krankenwagen zu bestellen war eine Kleinigkeit. Wenngleich es gar nicht so leicht war, in dem nächtlichen Dämmerlicht die Telefonnummer des nächsten Krankenhauses ausfindig zu machen. Man sah ja kaum etwas.
In spätestens zehn Minuten wollte der Krankenwagen da sein. Ich hatte es dringend gemacht. Ich dachte mir, dass es einfacher wäre, wenn ich mitfuhr und den Leuten sagte wo sie hinfahren sollten…
KH
Eine Antwort
The IF-blog team should have very small biographies attached. I tried to look up Klaus Hnilica in Wikipedia, but could not find him. This negated my suspicion that he is a well-known German author. Perhaps he is the star pupil in a class learning picturesque writing? In any case, I would like to know whether he has written novels, or restricts himself to cameos.