Wikipedia und ich #5 – PoV und nPov

🙂 Endlich wieder Zeit fĂŒr Wikipedia

Das habe ich schon mal geschrieben, in der Tat kommen die Dinge, die am meisten Spaß machen, oft zu kurz.

Heute geht es um die Findung von Wahrheit. Wahrheit wird oft mit Gewissheit verwechselt. Die freie EnzyklopĂ€die Wikipedia hat einen hohen Anspruch, die Artikel mĂŒssen korrekt und objektiv, sie sollen „wahr“ sein.

Jetzt ist die Welt aber alles andere als einfach. Welche Informationen sind notwendig, um ein Ereignis, eine Person, ein Unternehmen, einen Fakt oder einen Begriff hinreichend und ausreichend zu beschreiben. Die Gewichtung der verschiedenen Aspekte soll ausgewogen sein. Die Informationsdichte soll nicht zu tief und nicht zu oberflĂ€chlich sein. Sie soll alle Dimensionen des Themas gleichmĂ€ĂŸig berĂŒcksichtigen. Besonders schwierig wird dies bei emotionalen oder von Interessen getriebenen Themen. Hier kann es leicht verschiedene Parteien geben, die fĂŒr den Standpunkt des anderen kein VerstĂ€ndnis haben. Die beide ĂŒber eine ganz andere Form von Gewissheit verfĂŒgen und sich jeweils im Besitz der alleinigen Wahrheit fĂŒhlen. Und das kann ganz schön ausarten, bis hin zur gegenseitigen BekĂ€mpfung und dem Einsatz unredlicher Methoden.

Ich habe fĂŒr diesen Artikel ein harmloses Beispiel ausgesucht, den Marienplatz in MĂŒnchen. Sie sollen entscheiden, ob er relevant fĂŒr eine EnzyklopĂ€die ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit wĂŒrden Sie sagen, eher nicht. Das habe ich auch gemeint, bis ich ihn in Wikipedia gefunden haben: den Marienplatz in MĂŒnchen! In den Jahren, in denen ich in Pasing gelebt habe, ist mir der Pasinger Marienplatz mit seiner MariensĂ€ule ans Herz gewachsen. Ist der Pasinger Marienplatz etwas fĂŒrs Wikipedia? Ich hĂ€tte nein gesagt. Aber Pech gehabt, auch er ist in Wikipedia!

Wenn Sie den Artikel zum Marienplatz MĂŒnchen (und auch zum Pasinger Marienplatz) im Wikipedia lesen, werden Sie sofort einiges an Informationen vermissen, die Sie persönlich als relevant bewerten (zumindest sofern Sie MĂŒnchner sind und diese PlĂ€tze selbst kennen, erlebt und lieben gelernt haben).

Ja, dachte ich mir, den MĂŒncher Marienplatz akzeptiere ich ja noch als irgendwie relevant. Ist dann der Karlsplatz auch relevant? Die richtige Antwort: Unser Stachus ist auch in Wikipedia, gemeinsam mit den „KarlsplĂ€tzen“ in

Aber was ist mit den anderen, vielleicht geschichtlich oder sonstig wichtigen „KarlsplĂ€tzen“ auf dieser Welt. In MĂŒnchen gibt es einige andere PlĂ€tze, die relevant sein könnten, die aber nicht in der FußgĂ€ngerzone liegen. Sollen die auch in der großen EnzyklopĂ€die erwĂ€hnt werden? Vielleicht kommen Sie jetzt ins GrĂŒbeln: Wie relevant sind diese PlĂ€tze wirklich? Und was muss in die beschreibenden Artikel unbedingt rein, was ist eher ergĂ€nzende Information?

Man sieht an diesem einfachen Beispiel, wie schwierig die Entscheidung ist, welche Artikel Teil der EnzyklopĂ€die sein sollen und dĂŒrfen und welche nicht (siehe auch meinen Artikel ĂŒber Relevanzkriterien). Eine (radikal-moderne) Strömung im Wikipedia ist der Meinung, man sollte alles zulassen. Technologisch wĂŒrde dem nichts mehr entgegenstehen. Aber wie soll man dann die QualitĂ€t sichern? Masse statt Klasse ist kein gutes Motto. Um dies zu Recht fertigen werden Ideen wie die automatische Löschung von Artikeln, die eine gewisse Zeit lang nicht gelesen oder verĂ€ndert werden, diskutiert. Ein brisantes Thema.

Aber noch schwieriger ist die Konsensfindung ĂŒber den Inhalt eines Artikels und die Belegung der Aussagen bzw. BeweisfĂŒhrung zur Richtigkeit der gesammelten Informationen. Stellen Sie sich vor, Sie holen am Marienplatz in MĂŒnchen fĂŒnfzig gebildete und kompetente Menschen in einem Raum (z.B. in einem Wirtssaal einer anliegenden bayerischen Wirtschaft) und erstellen mit diesen unter Ihrer Leitung eine prĂ€zise Beschreibung des MĂŒnchner Marienplatzes. Wenn Sie dann noch zu Spezialgebieten wie Geschichte, Wirtschaft, Architektur etc. eine Reihe von Experten dazu holen, wird es spannend. Die Wogen werden hochschlagen und die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in endlicher Zeit ein substantielles Ergebnis schaffen, dem alle Teilnehmer mehr oder weniger zustimmen, wird nicht sehr hoch sein.

Denn jeder Teilnehmer hat einen eigenen ganz persönlichen Point of View (PoV) – so heißt das in Wikipedia. Und die Kunst ist es, gemeinsam einen neutralen Point of View (nPoV) zu finden. Der eigene Point of View hĂ€ngt ab von der persönlichen (Aus-)Bildung, dem individuell Erlebten, den eigenen Interessen … Der friedliche Disput ist schwierig und mit oder ohne Bier und WeißwĂŒrste wird es in dieser fiktiven Runde ganz schön zur Sache gehen.

Die Kunst, die Sie mit Ihren Teilnehmern ĂŒben mĂŒssen, ist die demokratische Entwicklung von mehrheitsfĂ€higer und wahrhaftiger Meinung. Ich glaube, dass dies die zentrale Herausforderung unserer Demokratie ist. Wir mĂŒssen uns permanent in Methoden zur Findung eines belastbaren Konsens bei schwierigen und unbequemen Themen einĂŒben. Nur so können wir gemeinsame Ziele finden und gesellschaftliche Regeln festlegen, die wir freiwillig als Programm annehmen und als die unsere Handlungen leitenden politischen Vorgaben akzeptieren. Und wir mĂŒssen lernen, persönliche Interessen zurĂŒck zu stellen und den Einfluss diverser systemischer Interessensvertreter, der Lobbies, auf Null setzen, oder noch besser, sie ganz abschaffen. Und dafĂŒr der Vernunft und dem gesunden Menschenverstand mehr Gewicht und Raum geben.

Sachlichkeit, ObjektivitĂ€t, SozialitĂ€t und Geschichtlichkeit sind Voraussetzungen fĂŒr Erkenntnisfortschritt. Annahmen mĂŒssen belegbar, fachliche Aussagen ĂŒberprĂŒfbar sein. Gesicherte Quellen mĂŒssen recherchiert und angegeben werden. Das ist bei Wikipedia so und sollte auch in der Politik so sein. Wikipedia ist ein exzellentes Modell fĂŒr demokratische Meinungsbildung nach klaren Regeln.

In unserer Gesellschaft obliegt die Aufgabe der politischen Meinungsbildung unseren Parteien. Diese und ihre Mitglieder könnten von Wikipedia einiges lernen. Wie man an den Ergebnissen sieht, funktioniert bei Wikipedia der schwierige Prozess der demokratischen Regelfindung und Konsensbildung um einiges besser.

RMD

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