Hoch lebe die Kommunikation
Ich lausche gerne fremden Gesprächen. Oft muss ich mir auf die Zunge beissen. Weil die Äußerungen mir so gegen den Strich gehen, dass ich dazu Meinungen äußern würde, die die restliche Welt aber nicht verstehen würde. Besonders reizen mich Stammtisch-Gespräche. Da fallen mir Frauenfeindlichkeit und die dominante Rolle des Autos im männlichen Leben auf.
Ich wundere mich oft über die „geistige Immobilität“. Und wenn schon die jungen erstarrt sind, dann muss es bei den alten ja auch nicht besser sein. Ganz im Gegensatz zu derer automobilen Beweglichkeit. Also belauschen wir einen
Stammtisch der alten weißen Männer
Das Briefmarkentreffen
Fünf alte weiße Männer treffen sich zum Tausch von Briefmarken. Das Briefmarkentreffen ist meine literarische Fiktion, denn kein Mensch tauscht heutzutage noch Briefmarken. Das Sammeln von Briefmarken ist vorbei. Obwohl die Marken graphische Meisterwerke und zeitgenössische „Zeitmarken“ sind, interessiert sich niemand mehr für die kleinen bunten Bilder. Einst wertvolle Sammlungen werden beim Altpapier abgelehnt und als Sondermüll eingestuft.
Das Subjekt der Beschäftigung ist aber auch Nebensache. Die alten Gockel wollen sich selber darstellen. Darum und um Ratsch&Tratsch geht es. Und das macht man lieber nicht lebendig, also von Angesicht zu Angesicht. Also am Stammtisch. In meiner Fiktion treffen sich fünf Gockel aus dem Westen, Norden, Osten und Süden Münchens. So müssen sie irgendwie an den gemeinsamen Treffpunkt kommen, also körperlich mobil sein.
ÖPNV geht eh nicht, aber zu Corona-Zeiten schon gar nicht.
Die alten Herren sind natürlich mit ihren PKWs da. Sie wohnen zwar im S-Bahnbereich und könnten auch öffentlich fahren. Aber ihre Freiheit ist ihnen wichtig. Sie wollen sich keinem Fahrplan unterwerfen, wie ihn der öffentliche Verkehr vorgibt. Und dann müssten sie auch noch eine Maske tragen. So ist jetzt mit Corona der öffentliche Verkehr völlig unvorstellbar. So wird die S-Bahn zum NOGO.
Fahrradfahren geht auch nicht.
Die alten Herren fahren privat Fahrrad. Dies aber nur zum Spaß in der Freizeit. Und nur bei schönem Wetter. Einmal rund herum um den lokalen Weiher. Das Briefmarkentreffen ist eher eine Art dienstliche Veranstaltung. Und 20 km radeln, das ist auch ein NOGO. In der Stadt wäre das ja auch viel zu gefährlich. So wie die Autofahrer fahren würden! Und Nachts heim radeln, das geht ja gar nicht.
Da ändert die Tatsache auch nichts, dass alle ein Pedelec haben.
Taxifahren ist nichts für rüstige Greise
Und abgesehen davon viel zu teuer. Autofahren macht ja auch Freude und ist alles andere als Arbeit. Und Zeit hat man im Alter genug. Und dass man für die monatlichen Kosten des PKW ganz schön viel Taxifahren könnte, wird auch vergessen. So bleibt das Auto das alternativlose Verkehrsmittel, um zum Briefmarkenstammtisch zu kommen.
Wenn sich die alten Herren treffen, geht es los. Jeder berichtet von seinen negativen Erfahrung auf der Fahrt zum Treffpunkt. Der Verkehr würde immer schlimmer werden, es wäre der Wahnsinn. Und die Politik würde aber auch gar nichts dagegen tun. So man hätte eine richtige Herausforderung hinter sich (die man heldenhaft gemeistert hätte).
Die Fahrt mit dem Auto durch die Stadt ist ein Erlebnis
Jeder berichtet, welchen Schleichweg er intelligenterweise genutzt hat. Und eigentlich wäre es so ganz gut gegangen. Bis er dann doch in den Stau kam. Welcher Rowdy ihn überholt hätte. Und wie aggressiv mittlerweile vor allem die Damen fahren würden. Und wie provozierend langsam der Opa mit dem Hut in seinem Opel auf dem kurzen Stück Landstraße gefahren wäre …
Alles dreht sich ums Auto
Und vom Verkehr geht es dann zum Auto allgemein. Welchen tollen Rabatt man beim letzten Kauf des SUVS oder VANS im zarten Alter von 72 Jahren doch bekommen hätte. So dass man unbedingt zu schlagen musste, obwohl der alte Wagen noch ganz gut gewesen wäre. Nur schade, dass man beim Neuen schon wieder den ersten Kratzer beim Einparken bekommen hätte. Aber das andere Auto wäre ja auch so blöd auf dem Parkplatz herum gestanden.
Und warum man aus Umweltgründen eigentlich nur Diesel fahren dürfte. Und dass die e-Autos ja wirklich der größte Umweltfrevel wären.
Die Briefmarken werden nebenher angeschaut
Beim Betrachten der Briefmarken kommt die Rede auf die schönen Traumstraßen, die man alle schon gefahren ist und im nächsten Urlaub fahren würde. Ganz weg vom Auto geht das Gespräch nie. Und dann kommt das wesentliche. Die Freiheit!
Das Auto ist das Symbol der Freiheit
Welche Freiheit das Auto in den 60iger Jahren gebracht hätte. Was man im Auto so alles getrieben hätte (Psst!). Welche Unfälle man überlebt und welche Konflikte man mit der Polizei (erfolgreich) ausgetragen hätte.
Wie unpraktisch Navigationssysteme doch wären und wie diese die Menschen verdummen würden. Und natürlich welche Tankstelle am billigsten wäre (Geiz ist geil).
Gut, dass ich nicht am Tisch sitze. Denn all das interessiert mich halt überhaupt nicht!
Organisatorische Anpassung
Die alten weißen Herren überlegen dann, ob man nicht die Zeiten des Treffens verändern sollte. Weil es doch auch verkehrsarme Zeiten geben würde, wo man gut durch die Stadt kommt. Und weil es schön wäre, mal ohne Stau über den mittleren Ring zu gleiten. Und dass 70 km/h die Geschwindigkeit wäre, mit der man am besten durch kommen würde. Nicht das freiheitsraubende 60 oder gar 50 Km/h-Limit.
Des Bayerns Bier
Beim Briefmarken-Betrachten trinkt man gerne mal ein Bier. Da poppt das Thema Auto wieder hoch.
„Mit einem oder zwei Bieren über mehrere Stunden könne man ja durchaus noch gut fahren. Aber man müsse schon aufpassen, weil die Polizei ja immer intensiver kontrollieren würde. Die hätten ja sonst nichts zu tun.“
Und dann kommt der Austausch, wo die Kontrollen immer stehen würden und die Diskussion, ob diese im Fasching oder während der Starkbierzeit strenger wären.
Ich leide, wenn ich solchen Gesprächen lausche.
Der wichtige Lappen
Meine ich doch, dass ich den Führerschein gar nicht brauchen würde. Weil ich eh nicht mehr aus „normalen Gründen“ wie Regen oder Kälte Auto fahren würde. Es gibt für mich fast immer mobile Alternativen, die mir angenehmer sind als das Auto. Und nebenbei, aufgrund meines hohen Alters habe ich gar nicht mehr genug Restlebenszeit, um diese am Steuer eines Autos zu verschwenden.
Und trotzdem geht es in Männergespräch immer ums Auto (oder Frauen), und die Angst vor dem Verlust des Führerscheins ist bei den meisten wesentlich größer als die vor Corona. Dabei meine ich, dass wenn es „um Leben und Tod geht“, man sich auch ohne Führerschein vors Steuer setzen darf oder sogar muß.
Das sage ich aber nie laut. Weiß ich doch, dass mich dann Wellen des Unverständnisses überrollen.
Schlimmer geht immer!
Wechseln wir die Stammtische. Weg von den alten Männern hin zu Familie, Freunden und Verwandtschaft. In dieser Kreisen trifft man sich zum geselligen Essen. Natürlich auch für Ratsch & Tratsch. Für mich eine andere Form von „Stammtisch“.
Der Stammtisch besteht dann meistens aus Paaren oft ähnlichen Alters und vergleichbaren Lebenssituationen, die privat oder beruflich befreundet oder verwandt sind. Man trifft sich dann beim Italiener oder Griechen. Wenn es einen besonderen Anlass gibt, auch mal beim Franzosen oder im Sterne-Lokal.
Gottseidank geht es hier nicht mehr ums Auto. Sondern um das, was man sonst so macht. Also Beruf und Urlaub, Nähen und Kochen, Theater und Konzerte, Ausflüge und Erlebnisse, Krankheiten und Alltagsärger.
Das große Thema sind die Kinder.
Unausweichlich kommt das Gespräch aber immer früher oder später auf die Kinder und die Familie. Wenn es nicht die eigenen sind – weil es die ab und zu mal nicht gibt – dann gibt es immer ein paar Neffen oder Nichten, über die man reden kann. Ist der Nachwuchs schon im geschlechtsfähigen Alter, dann dreht sich der Ratsch & Tratsch schwerpunktmäßig um die Beziehungen der Kinder.
Besonders beliebt ist der aktuelle Beziehungsstatus, die vergangenen und kommenden Hochzeiten sowie Geburten und Fehlgeburten. Und natürlich auch Todesfälle und Krankheiten. Es geht um die die beruflichen Erfolge und Karrieren der eigenen Brut, um die Glanzleistungen oder das Versagen der Enkel in der Schule. Alles spannende Themen., wie auch Operationen oder Unfälle – sei es mit dem Fahrrad oder Auto – sind die Highlights.
Und das Thema Auto kommt auch noch. Unvermeidlich. Da hat sich der leichtsinnige Sohn, der noch Junggeselle ist, h einen Porsche gekauft. Warum wohl. Man kann es sich denken. Sein Bruder dagegen fährt ein E-Auto vom Tesla. Der war immer schon anders. Und es geht weiter im Thema.
Der Führerschein
Eines der besprochenen Kinder macht gerade den Führerschein. Präziser – sie hat ihn nicht gemacht. Denn sie war eine junge Dame, also weiblich. Sie konnte es dem männlichen Prüfer natürlich nicht recht machen. Weil der will, dass man bei Tempo 50 echte 50 und nicht 45 km/h fährt. Da ist sie natürlich durchgefallen.
Und dann wird die gesamte weibliche Bekanntschaft und Verwandtschaft durchgegangen. Und siehe da, das „Durchfallen“ ist normal. Alle Angehörigen des weiblichen Geschlechts sind beim ersten Mal durch gefallen. Und die meisten Omas, Tanten, Töchter, Schwestern, Kusinen … auch beim zweiten Mal. Sie sind alle Opfer der Willkür eines männlichen Prüfers geworden. Und mussten die Prüfung wiederholen. Einige eben auch mehrmals.
Mal wat die Einbahnstrasse das Problem. Oder ein Radfahrer. Oder es passiert beim Einparken. Die zu Prüfende (wie ist eigentlich die weibliche Form von Prüfling? Oder war diese Rolle für Frauen sprachlich nicht geplant?) war beim Einparken zu zögerlich. Ein anderer Autofahrer hatte ein wenig Stress erzeugt. Und der Fahrlehrer hat dann ein wenig zu früh eingegriffen und auf die Bremse getreten, damit die Stoßstange des „Vordermannes“ nicht touchiert.
Und der immer männliche Prüfer hat wie sonst auch nie Gnade vor Recht ergehen lassen. Weil das macht er bei Frauen aus Prinzip nicht machen kann. Eher schon mal bei einem jungen Mann, bei dem man ja förmlich merkt, dass er Autofahren kann.
Beim Einparken durchfallen?
Das finde ich völlig unsinnig. Heute hat doch (fast) jedes Auto eine elektronische Einpark-Unterstützung? Aber Automatik-Fahren gilt immer noch bei vielen als unmännlich. Das ist etwas für Frauen, aber nicht für einen Mann, der mit seinem Motor eins werden will.
Prüfungen wie auch Schulen mag ich eh nicht. Und Zertifikate für Kulturtechniken sowieso nicht. Der Führerschein ist so ein rotes Tuch für mich. So freue ich mich auf das selbstfahrende Auto. Dann verlieren zumindest die Führerscheinprüfer ihre Macht.
Das Führerschein-Machen ist ein Beispiel für geschlechtsbedingte Ungerechtigkeit
Das gilt für die Autokultur allgemein. So komme ich zum seriösen Teil des Artikels. Autofahren und das drum herum im Strassenverkehr ist gelebte Frauenfeindlichkeit. Es Autofahrergesellschaft steht auch beispielhaft für die problematischen Widersprüche von Ethik, Moral, Geboten und Verboten, Handeln, Bussen und Strafen. Und hat eine gesellschaftliche Ignoranz erschaffen, die eigenartige Blüten treibt.
Unsere Kultur der individuellen Mobilität zeigt, wie menschliche Trägheit, Triebe und eine unfassbare Unvernunft ein System geschaffen haben, das katastrophale Folgen hat.
Man muss nur an den Stammtisch lauschen.
RMD