Unverhofft kommt oft. Mein Freund Klaus-Jürgen Grün, Frankfurter Philosophie-Professor, hat mich per E-Mail hier in Serifos auf einen Artikel aufmerksam gemacht, den er am letzten Wochenende in der Frankfurter Neuen Presse veröffentlicht hat. Er sieht die offizielle Corona-Politik ziemlich kritisch. Seinen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen. Hier der Artikel:
Ende März erklärte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD):
„Ich wende mich gegen jede dieser zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen muss, damit die Wirtschaft läuft.“
Es ist die Aufgabe der Moral, Menschenfreundlichkeit zu transportieren. Aber Moral hat noch eine andere Seite. Sie diskriminiert und entzweit Menschen, indem sie die einen für gut und die anderen für böse erklärt. Sie deutet an, wem Achtung entzogen werden soll, verstärkt bestehende Feindseligkeiten und gibt ein Musterbeispiel an Intoleranz ab.
Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) liebt die mit feindseliger Moral aufgeladenen Unterschiede: „Wir müssen die Vernünftigen vor den Unvernünftigen schützen“, meinte er im August. Doch wer sind „die Unvernünftigen“?
Leider bestimmen in der Corona-Politik Einschüchterung der Bevölkerung und Aufbau von Angst das populäre Moral-Muster. Dabei hatte der Deutsche Ethikrat zu Beginn der Krise noch für eine sorgfältigere Abwägung zum Beispiel zwischen Gesundheitsfürsorge und (wirtschaftlicher) Freiheit plädiert.
Moral dagegen stört das nüchterne Abwägen von Gefahren in den Risiken und in den Risikovertreibungsrisiken. Eine auf Güterabwägung beruhende Sachlichkeit, Wahrscheinlichkeitseinschätzung und fachliche Kompetenz bedarf keines diskriminierenden Moralprinzips, um vertrauenswürdig zu sein.
Fürsorge als Risiko
In der Corona-Krise ist die andere Seite unserer alteuropäischen Moral sichtbar geworden. In der Krise nämlich sind ihre Prinzipien in die Paradoxie geraten, aus der sie sich mit eigener Vernunft nicht mehr befreien kann. Der binäre Code, nach dem die Vernünftigen die Guten und die Unvernünftigen die Schlechten sind, verbietet es zu fragen:
„Wie vernünftig ist die Vernunft?“ oder „Wie diskriminierend ist das Diskriminierungsverbot?“ und „Wie feindselig sind die Guten?“ Paradoxien geben zu erkennen, wie sich im politischen Geschäft Gefahren als Risiken verwerten lassen. Dabei spielt Angst eine Hauptrolle, und zwar die Angst vor den ungewissen Schäden, die jemand mit dem Risiko in Kauf nimmt. Aus der Fürsorgepflicht des Staates bildete sich in den vergangenen Jahrzehnten eine stereotype Antwort-Strategie heraus: Sicherheit.
Wo immer es gelingt, Risiken politisch verwertbar zu machen, beginnt ein Wettlauf um das schnellste Angebot der Sicherheit, als sei diese das Gegenteil von Risiko. Da bauen sich Mauern und Stacheldrähte gegen Migranten auf; unsichere Regulierungen gegen das fiebrige Weltklima und peinliche Hygiene-Vorschriften für Reiserückkehrer, von denen keiner wusste, wie sie umgesetzt werden sollten.
Um dem Einwand zuvorzukommen, ich wollte Flüchtlingsleugner, Klimaleugner oder Coronaleugner oder andere Unerschrockenheiten besonders in Schutz nehmen, gebe ich zu bedenken, dass diese ja zumeist nur das Verhältnis von Risiko und Sicherheit umkehren. Sie schüren die Angst vor denjenigen, die Angst schüren.
Fehlende „Risikokompetenz“, so der Psychologe Gerd Gigerenzer, produziert im Wechselspiel zwischen Angst und Sicherheit neue Gefahren. Wer im Wettlauf um das schnellste Angebot einer neuen Sicherheit gegen ein gerade angeschwemmtes Risiko aufgreift, spielt damit, bloß die Angst zu verkleinern, die er zuvor aufgebaut hatte.
Die vergangenen Monate haben bei vielen Menschen den Verdacht verstärkt, dass die Fürsorgepflicht des Staates manchmal ebenfalls zum Risiko geworden ist. Denn wer die Werte-Rhetorik von Hygiene und Vernunft als das schützende Dach über der Bevölkerung ausgibt, läuft Gefahr, ernst genommen zu werden.
Viele erachten es so nicht mehr für nötig, erwachsen zu werden. Sie
bleiben gerne unmündig wie Kinder, verbeugen sich vor der Obrigkeit und spucken ihr jähzornig ins Gesicht, wenn Langeweile ihnen Unlustgefühle macht. – „How dare you!“ („Wie könnt ihr es wagen“, wie Greta sagte).
Statt Gefahren und das Wagnis in einem Risiko präziser einschätzbar zu
machen, verschlingt Angst Transaktionskosten, um Angst zu vertreiben und
erzeugt neue Gefahren.
Wolfgang Schäuble als Mahner
Der ethisch-moralisierende Diskurs um alternativlose Werte verstärkt die Paradoxien. Mit der Corona-Krise haben wir dies auch am Beispiel der Ausstattung von Ärzten erlebt. Die Medizin-Ethikerin Bettina Schöne-Seifert meinte im April in ihrer ansonsten klugen Analyse der Optionen für den Triage-Fall: „Das Coronavirus führt Ärzte in tragische Entscheidungskonflikte“.
Auch sie hatte gesehen, dass die Unmöglichkeitsforderung, „Menschenleben dürfen nicht verrechnet werden“, nicht nur in den Krankenhäusern Norditaliens dadurch erfüllt wurde, dass Ärzte aufgrund begrenzter Kapazitäten Menschenleben verrechnen mussten. Es war aber nicht das Virus, das Ärzte in Entscheidungskonflikte gestürzt hatte. Es war die Paradoxie unserer alteuropäischen Ethik.
Sie schrieb den Ärzten vor, dass sie Menschenleben nicht verrechnen sollten, aber genau dies mussten sie tun, wenn sie nicht in Untätigkeit erstarren wollten. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der als 78-Jähriger selbst zur Risikogruppe zählt, widerstand der Verführungskraft dieser Vernunft, als er im April erklärte, dass nicht alles andere vor dem Schutz von Leben zurückzutreten habe. Vielleicht könnte der Ethikrat größeres Gewicht erhalten, wenn er öfter aufträte als Warner vor der Moral.
Konservative Gelehrte versuchen engagiert, die Autorität der paradoxen Vernunft durch Verweis auf die Würde des Menschen zu retten. Andere haben weniger Schwierigkeiten damit, die letzte Entscheidung dem Arzt und seiner am konkreten Nutzen ausgerichteten fachlichen Kompetenz zu überlassen.
Wer sich die Freiheit nimmt, eine Entscheidung selbst zu treffen, ergreift auch die Verantwortung für das Wagnis, das er eingeht. Ein Klima der Unmündigkeit und Angst wirkt sich ungünstig auf die Ausbildung erforderlicher Risikokompetenz aus.
Und mit einem immer enger geknüpften Regelwerk an Vorschriften delegieren wir Verantwortung an das Regelwerk. Welche Rolle sollen denn Autonomie, Freiheit und Ethik noch spielen, wenn das engmaschige Netz von Algorithmen und Vorschriften jede Entscheidung vorweggenommen hat?
kjg
Eine Antwort
„Wer sich die Freiheit nimmt, eine Entscheidung selbst zu treffen, ergreift auch die Verantwortung für das Wagnis, das er eingeht.“
Wenn es denn so wäre!
Oft begegnet man der Verantwortungslosigkeit gegenüber den genommenen Entscheidungsfreiheiten.
Wie lautet das alte Sprüchlein?
Heiliger St. Florian, verschon mein Haus, zünd andre an!
Ich gebe ihnen mein Ehrenwort!