Zur Abwechslung hier einmal ein ‚Thriller‘! Mit etwas Glück kommt jetzt jeden Sonntag ein Kapitel. Vielleicht haben einige die Nerven und halten bis zu Kapitel 19 durch?
Das Bild ist übrigens auch von Martina Roth.
Kapitel 10
2003 – Das Licht
Im Raum 0.333 war es stockdunkel!
Nicht einmal die Notbeleuchtung funktionierte. Dieser lange Stromausfall war ungewöhnlich. Das roch nach Sabotage, oder einer größeren Panne in einem Umspannwerk. Aber vermutlich verlief alles im Sand, wie so oft hier an der Côte d’Azur. Doch die Russen schien das nicht zu stören, sie fielen ein wie die Heuschrecken. Vielleicht waren es ja nicht nur die milden Temperaturen, die sie anzogen, sondern gerade dieses anheimelnde Chaos. Zustände wie daheim!
Elsbeth kam die langanhaltende Dunkelheit zupass.
Solange sie nicht genau gesehen werden konnte, spürte sie auch keine Angst. Die wenigen herumirrenden Lichtkegel einiger Taschenlampen empfand sie als harmlos.
Was war das überhaupt für ein Raum, dieser 0.333?
Welche Funktion hatte er? In der Finsternis konnte sie weder seine Größe noch sonst irgendetwas abschätzen. Aber es gab etliche Türen zu anderen Räumen und in den kreisenden Lichtkegeln konnte sie auch Krankenbetten erkennen in denen vereinzelt sogar Patienten lagen. Und nach dem aufgeregten Geschnatter in fast allen Sprachen der Welt, war die hier versammelte Menge Mensch nicht klein, die von Minute zu Minute eindringlicher nach mehr Licht rief und ihrer Verärgerung freien Lauf ließ.
Russisch schien zu dominieren. Wer waren diese Menschen?
Sind die auch alle, wie sie, von irgendeiner ’Celine’ hierhergeschickt worden?
Vielleicht um abgeschoben zu werden?
Oder hingerichtet? Für den Organhandel in Asien vielleicht?
Elsbeth merkte, wie ihr die anfängliche Euphorie mehr und mehr abhandenkam und sich in der blökenden Masse verflüchtigte. Und der Engel Celine mutierte in ihrem Kopf zunehmend zu einem Monster. Aber war sie dieses Monster nicht ohnehin immer gewesen? Elsbeths Einschätzung war doch bis vor kurzem in dieser Hinsicht glasklar?
Nur durch die eigene grenzenlose Dummheit war sie dieser Kuh jetzt wieder aufgesessen und ohne jede weitere Nachfrage in blindem Vertrauen einfach losgerannt: nur weil Celine das angeordnet hatte. Wie blöd war sie eigentlich?
Vielleicht sollte sie ja, selbst auf die Gefahr hin, dass sie wirklich für geistig behindert eingeschätzt wurde, einfach jemand fragen, was er hier suchte? Warum er da war?
Sie brauchte doch nur zu der jungen Frau da drüben sagen, „excuse me, Madame, could you please explain to me why you are here in this room 0.333“?
Ja, so wollte sie diese junge Frau fragen; das konnte ihr doch niemand verargen.
Aber gerade als sie alle Kraft in sich gesammelt hatte und auf die besagte Frau wild entschlossen – zögernd – zuging, legte sich vorsichtig von hinten eine Hand auf ihre rechte Schulter.
Elsbeth erstarrte!
Blitzartig durchlebte sie alle längst abgelegten Angstmuster von neuem und glaubte, trotz der Dunkelheit einen Mann zu erkennen, der größer war als sie. Ihre Kapuze, die nach hinten gerutscht war, raffte sie mit der linken Hand so energisch zusammen, dass ihr Gesicht völlig verschwand.
„Also doch nicht Celine“? sagte eine Männerstimme belustigt in deutscher Sprache.
„Nein aber immerhin ihr Mantel, wenngleich es diesen Mantel sicher noch hundert Mal gibt“, entgegnete Elsbeth, die diese Stimme sofort erkannt hatte.
„Aber genau in dieser Größe, nicht so oft“, flüsterte die Stimme nahe an ihrem Ohr durch die Kapuze.
„Bist du es, den ich hier treffen sollte“, fragte Elsbeth, gar nicht mehr ängstlich, immer noch abgewandt und hörbar gereizt.
„Ich denke schon, wenn du nichts dagegen hast “, sagte er und nahm seine Hand von ihrer Schulter.
„Da du ja tot bist, kann ich gar nichts dagegen haben, wer stößt schon einen Toten vor den ‚Totenkopf’?“
„Dein Sarkasmus freut mich, er zeigt, dass du doch noch die Alte bist, die ich kannte“.
„Meinst du trotz aller Scheußlichkeiten, die man dieser Alten angetan hatte?“
„Ja, ich hab’ davon erfahren, aber erst als man mich aus der Bewusstlosigkeit zurückgeholt hatte! Nicht einmal Hugo wusste vorher etwas, das war die andere Organisation gewesen, das musst du mir glauben.“
„Wie schön, dass du wenigstens informiert worden bist, mit mir hat bis zum heutigen Tag niemand darüber gesprochen.“
„Ich war damals wie von Sinnen, als ich hörte, was man dir angetan hatte. Ausgerechnet dir, die mich so aufopfernd gepflegt hat! Ohne dich stünde ich jetzt nicht als fast gesunder Mann hier.“
„Schön für dich“, sagte Elsbeth frostig, sichtlich bemüht die Fassung nicht zu verlieren. Sie wandte sich abrupt ab und begann ziellos zwischen den verärgerten Menschen umherzulaufen.
Vor einer Wand blieb sie stehen und starrte trotz Dunkelheit auf ein gerahmtes Bild
Dann endlich Licht!
Licht, Licht, Licht…
Ein freudiger Aufschrei ging durch die Menge, bevor in vielen Sprachen wieder empört losgeschimpft wurde.
An Elsbeth plätscherte das vorbei. Für sie schien es nur dieses Bild, ein gerahmtes Foto, zu geben: eine Gruppe geschmacklos gekleideter Männer und Frauen posierten vor einer rosa Villa mit vermutlich allen Torbögen und Säulen, die im letzten Jahr an der Cote d’Azur aufgestellt worden waren.
Vielleicht zählte sie sogar die Säulen durch.
„Du kannst dich ruhig umdrehen“, sagte die Stimme.
„Hier darf man dich erkennen! Celine hat dich ja deswegen hierher in den ‚Russenraum´ geschickt, damit ich dich finde. Was mir, wie du gesehen hast, selbst bei größter Dunkelheit gelungen ist. Was ja vielleicht ein Zeichen ist, oder“?
Elsbeth drehte sich ganz langsam um: Celine hatte sie also diesmal nicht reingelegt!
Wladimir hatte sich wenig verändert.
Die Sonnenbräune konnte aber eine gewisse Traurigkeit in seinen Gesichtszügen und Augen nicht verdecken.
Und Elsbeth, wie sah die aus?
Wladimir schien das nicht zu interessieren. Er strahlte.
Spontan umarmten sie sich. Für eine normale Begrüßung viel zu lang. Danach wussten sie nicht wo sie hinschauen sollten.
Da Elsbeth auf Wladimirs weißen Kittel starrte, sagte er verwirrt, dass sie nicht glauben sollte, dass er Arzt sei.
„Was tust du denn hier?“ fragte Elsbeth gedankenverloren.
„Na ja, ich habe andere wichtigen Aufgaben! Wie du ja vielleicht weißt, wird die russische Gemeinde in der Umgebung von Nizza immer umfangreicher, und da sie nicht nur umfangreich, sondern wirklich reich ist, wünschen gewisse Stellen, dass man sie im Auge behält, nicht zuletzt zu deren eigenem Wohle, wie man meint.“
„Aha“, sagte Elsbeth ohne genau hingehört zu haben.
„Wie geht es dir denn, Elsbeth? Gesundheitlich meine ich“?
Wladimir schaute sie geradeaus an und umfasste ihre Oberarme mit beiden Händen. Eine ganze Weile.
„Besser, viel, viel besser, seit Celine ihr Medikamenten– Schutzschild über mich hält, wirklich!“
„Und mit deinen Verletzungen vom Sturzflug aus dem Auto?“
„Du weißt davon?“
„Ja“
„Vermutlich weißt du auch darüber mehr als ich weiß?“
„Vermutlich schon, meine Liebe.“
„Und jetzt, was passiert jetzt mit mir – mit uns“? fragte sie nach einer längeren Pause, in der sie ihn betrachtete, sich fröstelnd noch fester in ihren Mantel hüllte und merkte, dass sie beide noch immer vor dem unmöglichen Foto standen, während um sie herum trotz später Stunde laute Betriebsamkeit herrschte.
„Ich bringe dich schnellstens fort von hier – fort aus Dr. Hugo L.’s Einflussbereich“, sagte Wladimir lächelnd.
„Das kannst du“?
„Ich denke schon. Obwohl man Hugo nie unterschätzen darf. Wenn man nicht achtgibt, zieht der plötzlich wieder irgendein Ass aus dem Ärmel, wie man bei euch sagt.“
„Was wird er zu dieser Aktion sagen?“ fragte Elsbeth mit sorgenvoller Miene
„Das weiß ich nicht, aber ich vermute, er ist schlau genug, um zu wissen wann er verloren hat.“
Wladimir schaute kurz in die Menge als suchte er jemand.
„Suchst du jemand“?
„Ja – deine Begleitung!“
Als Wladimir Elsbeths ängstlichen Gesichtsausdruck registrierte, legte er seinen Arm schützend um sie und sagte, dass sie sich keine Sorge machen müsse, er lasse sie von Boris seinem Fahrer, Verwalter und Freund in eine nahe gelegene russische Enklave bringen, in der es auch eine sehr gut geführte russische Klinik gäbe! Momentan sei sie aber vor allem hungrig, sagte Elsbeth als ihr Magen so laut knurrte, dass sie sich schämte.
Wladimir ging mit ihr zur nächstgelegenen Tür, dann über einen Gang und durch noch eine Tür und schon saßen sie in einer kleinen Kneipe in der es stark nach Wodka roch und alle Russisch redeten.
Dass die Kneipe „Wladimir“ hieß, war Elsbeth entgangen.
„Beginnt hier das Russenland?“, fragte sie spöttisch
„Ja, Raum 0.333 ist sozusagen der Grenzkorridor“.
„Dann gibt es hier bestimmt auch „Borschtsch“? Gott – wie lange ist das her, seit ich die das letzte Mal gegessen habe“!
„Ja iss sie! Das freut mich und mein Lokal und die russische Seele auch, denn für die bist du seit Neuestem sehr, sehr interessant. Und wenn du scharf nachdenkst, während du isst, errätst du vielleicht warum?“
Wladimir orderte für beide Borschtsch.
„Aljoscha“? flüsterte Elsbeth.
„Pst leise, noch besser ist, wenn du nur von „A“ sprichst“
„Wie spannend, da spielt wohl wieder jemand ´Räuber und Gendarm`“?
„Alte Spottdrossel“!
„Ist doch so Herr 007, oder“?
„Nur so viel: ´A´ lebt und du stehst deswegen hoch im Kurs bei gewissen wichtigen Herren in Moskau“!
„Jetzt sollten wir aber wirklich unseren Borschtsch in Ruhe essen“.
Danach winkte Wladimir einen Mann mittleren Alters, mit auffallend fleischigen Lippen vor einer Menge goldener Zähne, an den Tisch, den er als seinen Freund Boris vorstellte. Er war noch außer Atem und zog eine schwarze Strickmütze vom Kopf.
Wladimir drängte zum Aufbruch.
Zu Dritt gingen sie durch mehrere endlos lange Gänge.
An den Decken liefen silbrig glänzende Rohrleitungen, alle blitzblank. Man hörte keinerlei Geräusche. Nur die wenigen eigenen Worte hallten in den Gängen. Gelegentlich stand ein Krankenbett an der Wand. Diverse Schilder in Französisch und Russisch wiesen in unterschiedliche Richtungen. Auch die meisten Türen waren beschriftet. Boris schwieg, lächelte aber Elsbeth freundlich zu.
Hatte sie das Gesicht schon einmal gesehen? Sein Deutsch, hatte er bedauernd gesagt, wäre in Deutschland immer viel besser als hier! Irgendwann standen alle Drei draußen in der bitterkalten Nacht. Wladimir musste sich verabschieden, zeigte aber durch die Finsternis auf ein etwa zweihundert Meter entfernt stehendes weißes Auto!
„Bei der Kälte ist es am besten, wenn ihr um die Wette rennt“, meinte er spöttisch. Elsbeth spürte die übliche Angst in sich hochkriechen. Trotz des Wodkas, den sie mit Wladimir noch getrunken hatte. Aber Boris riss sie mit und so rannte sie.
Seit einer Ewigkeit endlich wieder…
Wladimir rief ihnen irgendetwas auf Russisch nach, so dass Boris zurückfiel. Obwohl Elsbeth sich ganz auf sich konzentrieren musste, glaubte sie einen winzigen Moment lang, im Augenwinkel noch wen mitlaufen zu sehen…
Unsinn, gleich war sie da! Trotz Dunkelheit und mangelnder Luft war sie noch vor Boris beim Auto. Erschöpft riss sie die Beifahrertür auf, die nicht abgesperrt war und warf sich schnaubend auf den Beifahrersitz.
Boris war auch schon da und startete, ohne Licht zu machen, blitzschnell das Auto.
Irgendjemand schlug mit der Faust noch auf das Dach.
„Das war knapp“, stöhnte Elsbeth seltsam belustigt.
Aber der sie da im dahin rasenden Auto anlächelte – war nicht Boris…