Kapitel 6
Immer dagegen
Warum Karl Koblewski an Schlaflosigkeit litt, wusste er selbst nicht so genau! Vielleicht war’s der Stress, vielleicht auch seine Nerven, vielleicht auch beides: der Stress und die Nerven, die einfach nicht zusammen –passten.
Aber egal was die Ursache war, zu ändern war es ohnehin nicht; da hätte er schon seinen Beruf wechseln müssen: Sicherheitsingenieur in einem großen Kohlekraftwerk und ruhiges Leben waren einfach nicht zu vereinbaren; dazu gab es jeden Tag viel zu viel Ärger und Arbeit!
Manchmal brachte er ja vor lauter Arbeit über Wochen kaum die Nase hoch, vor allem, wenn die Jahresrevision anstand und das Kraftwerk für die jährliche Wartung abgeschaltet wurde. Da musste Tag und Nacht gearbeitet werden, damit die Anlage möglichst schnell wieder ans Stromnetz gebracht werden konnte. Jeder Stillstandstag kostete jede Menge Geld, das sagten wenigstens die Kaufleute im Konzern. Und wenn die das sagten, dann musste man sich danach richten, beim Geld hörte jeder Spaß auf! Drum musste auch Karl Koblewski an solchen Tagen oft rund um die Uhr arbeiten, sehr zum Leidwesen von Susanne und seinen Kindern, aber was half’s, anders war die viele Arbeit nicht zu schaffen.
Und als Sicherheitsingenieur mussten er und seine Kollegen halt immer bei allen Wartungsarbeiten und Reparaturen dabei sein und dafür Sorge tragen, dass alle Vorschriften eingehalten wurden, schließlich ging’s um die Sicherheit der Betriebsmannschaft im Kraftwerk.
Und wenn längere Zeit keinerlei Störungen waren, dann war das seltsamer Weise auch problematisch, denn die Betriebsleute und das Wartungspersonal meinten dann alles locker im Griff zu haben und wurden leichtsinnig, ja manchmal auch etwas schlampig! Mit den Vorschriften wurde es dann gelegentlich nicht mehr so genau genommen. Und das durften die Sicherheitsingenieure auf keinen Fall zulassen! Denn Wehe es gab einen Störfall! Da war die Hölle los; und die Presse auch gleich da! Die hatten ein feines Näschen für alles was daneben ging!
An Schlaf brauchte Koblewski Revisionszeiten gar nicht zu denken! Stundenlang wälzte er sich in solchen Zeiten oft in seinem Bett herum und versuchte krampfhaft ruhig und gelassen zu werden, um vielleicht doch noch ein Ziepelchen Schlaf zu erhaschen…
Oft stand er auch auf und las ein, zwei Stunden in der Zeitung oder in einem Buch, oder er ging, wie in letzter Zeit öfters, einfach spazieren…!
In Rodenbach konnte man das machen, da musste man keine Angst vor irgendwelchen komischen Typen haben.
Im Gegenteil, es war richtig schön in der Nacht durch den schlafenden Ort zu gehen. Alles war ruhig und friedlich.
Um drei Uhr Morgen war weder eine Kneipe offen noch fuhr irgendein Auto. Keine Menschenseele war unter der Woche zu sehen. Die paar Häuser, in denen man auch um diese Zeit gelegentlich Licht sehen konnte, waren an einer Hand abzuzählen: das waren die beiden Ärzte, Doktor Bauer und die Frau Doktor Schaff, die offensichtlich auch in der Nacht manchmal zu Patienten mussten und dann noch ein paar Leute, die auch im Kraftwerk arbeiteten und Schichtdienst hatten.
Und dann natürlich die Suffsusl. Hinter deren windschiefen Fensterläden brannte immer Licht, und die Suffsusl war auch die Einzige, der man regelmäßig begegnen konnte, wenn sie mit ihren beiden hässlichen Kötern in der Nacht durch die Gegend wackelte. Carl Koblewski erkannte sie immer schon von Weitem, ihr Wackelgang war unverkennbar, sie kam daher wie eine wandelnde Kommode, mehr breit als hoch! Und sie greinte schon bevor Koblewski noch ausweichen konnte.
„Na – könne wir auch nicht schlafen“? krächzte sie ihm schon von Weitem zu. Er sagte nur ja, ja, versuchte zu lächeln und ging so schnell wie möglich an ihr vorbei.
Mit ihr wollte niemand etwas zu tun haben, abgesehen davon, dass sie fast immer eine Fahne hatte, wusste man auch nie, ob sie nicht im nächsten Moment gleich losschimpfte, weil sie sich über irgendetwas ärgerte. Von ihrem Geruch einmal abgesehen, den sie an sich hatte! Wahrscheinlich kam der auch von den vielen Katzen mit denen sie hauste. Niemand in Rodenbach konnte genau sagen, wie viele Katzen sie tatsächlich hatte: ihr Haus war tabu, es wurde gemieden!
Überhaupt von den Einheimischen wäre niemand in dieses Haus hineinzubringen gewesen. Früher als ihre beiden Töchter noch bei ihr wohnten sollen amerikanische Soldaten da ein und aus gegangen sein.
Die Polizei kam allerdings nachher auch noch, denn die kleinen Diebereien hörten auch dann nicht auf, als die Töchter ausgezogen waren. Manche Leute in Langenwaden meinten, dass die Suffsusl erst durch die Katzen zu stehlen aufgehört hat, denn diese Katzenbrut hätte niemand im Ort gefüttert, wenn sie wieder ins Gefängnis gemusst hätte; das wusste sie auch!
Wovon sie lebte wusste allerdings niemand in Rodenbach, vielleicht steckten ihre Töchter, die in F. in Bars arbeiteten, ihr manchmal etwas zu.
Aber man hatte sie auch schon im nahen H. am Bahnhof für ihre Katzen betteln sehen.
Jedenfalls war die Suffsusl meist die einzige Begegnung, die Karl Koblewski bei seinen nächtlichen Spaziergängen hatte. Niemand sonst kam auf die Idee, um diese Zeit die Hunde auszuführen. Aber die Suffsusl war in den letzten Jahren scheu geworden. Man sah sie nur mehr selten tagsüber auf der Straße oder in einem Geschäft. Seither kümmerte sich auch niemand mehr um sie und man schimpfte auch nicht mehr über sie; irgendwie war sie einfach vergessen worden, wie es schien!
Wenn Karl Koblewski von seinen nächtlichen Runden heimkam, dauerte es auch immer noch eine Weile bis er einschlief.
Oft war es schon fünf Uhr bis die Glieder schwer wurden und die Augendeckel sich nicht mehr hochheben ließen. Aber wenn dann eine Stunde später der Wecker läutete, hätte er schlafen können: tief und fest… Da war’s als müsste er aus einer unendlich tiefen Sandgrube hoch krabbeln, zwei Schritt hoch und drei nach unten und alles weich und nachgiebig! Und welch eine Erlösung, wenn alles nach unten wegrutschte und er erschöpft und zufrieden, wie ein Käfer am Rücken liegen bleiben konnte. Aber irgendetwas riss ihn dann wieder hoch und er begann von neuem zu strampeln, bis er endlich, endlich oben war und sich mit bleischweren Gliedern und dröhnendem Kopf aus dem Bett wälzte.
Und dann war höchste Zeit, da er mit dem Auto gut eine halbe Stunde ins Kraftwerk brauchte!
Abends wurde es meist spät; vor sieben Uhr kam er selten heim.
Oft wurde er gar nicht zur Kenntnis genommen, wenn er müde und abgeschlafft bei der Tür hereinschlich. Einerseits war ihm das recht, da er keine Lust zum Sprechen hatte und unfähig war irgendeine Gefühlsregung zu zeigen, andererseits kam er sich gerade deswegen oft wie ein Eindringling vor, der da in den behüteten Kreis von Susanne, Kiki und Niki eindrang und Unruhe in die eingespielten abendlichen Abläufe brachte.
Am ehesten hätte er sich gefreut, wenn ihn alle mit einem Begrüßungskuss empfangen hätten, ohne ein Wort zu sagen! Aber das war nicht möglich, denn Niki hing um diese Zeit nur mehr müde an seiner Mama und Kiki turnte vor dem Fernseher auf dem Boden herum, oder hockte mit Ebru und Vera in ihrem Zimmer. Oft war sie aber auch gar nicht daheim, da sie wieder einmal bei einer ihrer Freundinnen übernachtete.
In letzter Zeit war Kiki ohnehin meist unsichtbar. Karl Koblewski wusste gelegentlich gar nicht mehr, ob er noch eine Tochter hatte. Und wenn er das überprüfen wollte und dazu, sozusagen, eine visuelle Inspektion durchführte, dann musste er sich schon in Geduld fassen und ein längeres Klopfritual an Kikis Zimmertür durchstehen…
Offensichtlich spielten sich da geheimnisvolle Dinge ab…?
Und immer wieder wurde von einer Kontra–Bande gesprochen und mit viel Gekicher jede Menge grüne Schals gestrickt, die man, wie es schien, nicht nur um den Hals trug sondern auch vielfach einsetzen konnte, etwa als Kletterseil oder zum Tragen von Lasten oder gar zum Fesseln von Feinden und Ungeheuern…!
Kiki Koblewski war natürlich die Anführerin der Kontra–Bande! Immerhin gab es dann noch sechs andere Bandenmitglieder: drei Mädchen (Ebru, Klara und Vera) und drei Jungs (Benedikt, Lutz und Simon) und sie alle hatten sich geschworen, immer gegen das zu sein, was gerade „in“ war! Was gar nicht so leicht war, denn manchmal mussten sie gegen ihre eigenen Neigungen kämpfen, da ihnen das eine oder andere auch gefiel. Anderes war wieder leicht: so unterstützten sie die Türken an ihrer Schule, die viele als Stinker abtaten, und halfen komischen, alten Leuten, die als ´öde Gruftis abgetan wurden und manchmal auch wirklich ekelhaft waren. Und natürlich waren sie für Windräder, die zwar viele auch gut fanden aber nur nicht im eigenen Garten…ha – ha! Und dafür waren die Kontras!
Nur eines war auch klar, wer glaubte sie durchschaut zu haben, war schnell am Ende, denn wenn ihnen danach war, taten sie alles gerade anders rum – eben immer kontra!
Natürlich war die Kontra–Bande auch für den Udo Seidler und gegen den Manfred Seidler. Dass hieß aber nicht, dass ihnen der Manfred Seidler überhaupt nicht gefiel. Ganz im Gegenteil, alle einschließlich Kiki fanden ihn toll! Aber darum ging es nicht bei den Aktionen der Kontra–Bande: wichtig war: dass Schwachen geholfen wurde, dass Dinge unterstützt wurden, die niemand sonst beachtete, dass man Menschen half, die einfach vergessen worden waren und die niemand mehr hatten, oft nicht einmal einen Hund oder eine Katze, oder kranken Menschen half, die allein waren und sich manchmal nicht einmal mehr vernünftig bewegen konnten Aber nicht immer war man hilfsbereit! Und auch nicht jeden Tag! Manchmal taten sie auch ganz verrückte und blöde Dinge, worüber alle verwundert den Kopf schüttelten! Und gelegentlich gehörten sie selbst zu denen, die den Kopf über diese blöde Bande schüttelten!
Bei Udo war eigentlich alles klar; egal was er angestellt hatte! Da gab’seinen ganz klaren Mehrheitsbeschluss; die Bandenchefin hatte sozusagen leichtes Spiel, denn sie überprüfte die Aktionsziele, die die Bandenmitglieder vorschlugen, auf die Kontra-Eignung und gab sie zur Abstimmung frei. Fand sich keine Mehrheit innerhalb der Bande, wurde es verworfen. Aber wenn sich eine Mehrheit ergab, dann kam dieses Ziel in den Aktionsplan und wurde abgearbeitet, vorausgesetzt es gab nicht schon zu viele Ziele, denn die Anzahl der zugelassenen Aktionsziele waren beschränkt. Die Parole hieß Nie mehr Ziele als Bandenmitglieder!
Sonst hätte man sich vielleicht eines Tages überhoben.
Bei der Aufnahme eines neuen Bandenmitgliedes wurde in einer geheimen Wahl über das vorgeschlagene Mädchen oder den Jungen abgestimmt. Das Ergebnis musste einstimmig sein, schon bei einer Nein–Stimme galt der Vorschlag als abgelehnt. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass das neue Bandenmitglied auch von allen gemocht wurde. Das war wichtig: die Bande hatte es eh schwer genug, sie musste unbedingt zusammen – halten!
Und jedes neue Mitglied der Kontra–Bande musste als Aufnahmeprüfung eine Kontra–Tat vollbringen, die von Kiki festgelegt und mit allen beraten wurde. Wenn das erledigt war, dann wurde in einer geheimen, nächtlichen Feier vor dem Grab des grauen Mannes der grüne Bandenschal und die Bandensatzung von Kiki überreicht und das neue B-Mitglied auf den grauen Mann vereidigt, da vermutlich er, der erste Kontra gewesen ist! Vielleicht aber auch nicht, wer wusste das bei den Kontras schon so genau!
Zu dieser Aufnahmezeremonie mussten nach der Satzung alle B–Mitglieder erscheinen – mit ihren grünen Schals mehrfach um Hals und Brust geschlungen!!
Bei flackerndem Kerzenlicht las Kiki leise, damit niemand im Friedhof mithören konnte, die sieben Kontra – Gesetze vor und küsste das neue Mitglied links und rechts auf die Backe und die anderen Mietglieder taten das auch; anschließend ging man schweigend auseinander, so verlangte es das K–Gesetz Nummer 7! Das neue Bandenmitglied hatte dann zwei Wochen Zeit, um sich die schwarze Rollrandmütze und die schwarze Brille zu besorgen…
Nach so einer Zeremonie sah Kiki in der Nacht manchmal den grauen Mann wieder lachend über diese große Wiese gehen – die Sonne war dann meist untergegangen und der graue Mann gab ihr lachend in der Dämmerung Zeichen, die sie nicht deuten konnte, aber auch schlecht sah, da alles so trübe und verschwommen war – doch, wenn sie auch nur einen einzigen winzigen Schritt auf ihn zu gehen wollte, um besser zu sehen, wachte sie auf…!
Aber enttäuscht war sie komischerweise nie! Vielleicht musste sie einfach noch warten…
KH
2 Antworten
Hallo Klaus,
ich lese gerade die spannende Geschichte von Udo, dem Trottel.
Wenn es dir recht ist, melde ich hier Dinge, die mir auffallen:
Carl Koblewski erkannte sie immer schon von Weitem, ihr Wackelgang war unverkennbar, sie kam daher wie eine wandelnde Kommode, mehr breit als hoch!
Karl ist zu Carl geworden.
Grüße von
Karl
Das freut mich sehr, dass du den Rodenbach Krimi liest, lieber Karl. Tja und solche Schnitzer passieren leider, da ich die Geschichte überarbeitet und korrigiert habe für diese Veröffentlichung. Und ich bin dir natürlich für jeden Hinweis dankbar.