Kapitel 10
Ausgetrickst
Schon seit ein paar Tagen war Föhn in Rodenbach. Das war sicher mit ein Grund, dass Karl Koblewski wieder jede Nacht seine Runden drehen musste. Die heftigen warmen Windböen setzten ihm genauso zu, wie den Bäumen, die sich massiv zur Wehr setzten und ein ständiges Schattenspiel auf die nächtlich beleuchteten Straßen zauberten. Wie Katzen huschten diese Schatten über die Straßen und verschwanden lautlos in den dunklen Vorgärten der Häuser.
Vorsorglich wählte Karl Koblewski jede Nacht eine andere Route. Er wollte unter keinen Umständen der Suffsusl begegnen. Sollte sie doch selbst schauen wie sie mit ihren Problemen zurechtkam!
Und das tat sie auch: trotz aller Täuschungsmanöver tauchte sie plötzlich eines Nachts aus dem Schatten einer Gruppe von vier Fichten und stellte sich Koblewski in den Weg. Der war so verblüfft, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte. Mit einem dünnen „guten Abend“, drückte er sich an ihr vorbei. Aber die Suffsusl schien zu wissen, was sie wollte und blieb ihm mit ihren elendiglichen Kötern beharrlich auf den Fersen. Obwohl er kräftig ausholte, hörte er ständig ihr Gewatschel hinter sich; sie schimpfte auch immer wieder lautstark vor sich hin und spuckte klatschend auf die Straße.
Und plötzlich schrie sie ihm laut nach, ob er ihn verrecken lassen wolle…!!
„Viel braucht es eh nicht mehr, dann krepiert er und du bist schuld Koblewski!“ schrie sie durch die windige Nacht. Ein Glück, dass niemand unterwegs war. Koblewski fühlte sich immer unwohler in seiner Haut…
Und die Susl schrie in ihrer Verzweiflung immer weiter und weiter!
Plötzlich gab sich Koblewski einen Ruck und blieb stehen. Die Susl kam nur langsam näher, sie wusste nicht, was sein Stehenbleiben zu bedeuten hatte. Ein paar Meter vor ihm blieb sie auch stehen und starrte ihn an. Koblewski merkte plötzlich, dass er im hellen Licht einer Straßenlaterne stand und trat nach hinten in den schützenden Schatten der Rodenbachhalle. Da sich die Susl nicht von der Stelle rührte, rief er ihr zu, dass sie näherkommen solle.
„Es muss ja nicht der ganze Ort mithören“, schob er versöhnlich nach.
Als er wieder ihren beißenden Geruch in der Nase spürte und ihre schnüffelnden Köter um die Beine, bedauerte er sofort seine versöhnliche Geste.
Trotzdem fragte er, wie es Udo gehe und wie es um ihn stünde!
„Saumäßig geht’s ihm“, krächzte sie, „der grunzt im Fieber herum, keucht und schnappt nach Luft, dass man meint es geht jeden Moment zu Ende!“
Karl Koblewski brummte irgendetwas wie „hm, hm“ und scharrte unentschlossen mit seinem rechten Fuß am Gehsteig herum.
Die Susl witterte ihre Chance und nahm volle Fahrt auf: in allen Einzelheiten schilderte sie Udos schlechten Gesundheitszustand. Sie redete und redete als ginge es um ihr Leben. Koblewski unterbrach sie nicht, obwohl er bei weitem nicht alles verstand, was sie daher schwafelte; ihm war aber, als hätte sich bei ihr innerlich etwas gelöst, ja es quoll förmlich aus ihr heraus, sie schien wie erlöst, dass sie endlich frei über Udo reden durfte!!
„Ich schaue ihn mir an“, sagte Koblewski so plötzlich, dass sie es gar nicht mitbekam. Erst als er es ein zweites und drittes Mal sagte, begriff sie, was er meinte. Spontan griff sie nach seiner Hand und drückte sie heftig.
Koblewski bat sie gleich heim zu gehen und sicherte ihr zu in wenigen Minuten mit Medikamenten nachzukommen. Sie zögerte einen Moment, so als überlege sie, ob sie Koblewski trauen könne, drehte sich dann aber ruckartig um und watschelte ohne ein weiteres Wort mit ihren Kötern davon
Karl Koblewski blieb noch eine Weile stehen. Was hatte er eigentlich gerade getan? War das echt oder träumte er? War das der Beginn einer neuerlichen Katastrophe in Rodenbach, oder was war das gerade gewesen?
Es war fast vier Uhr Morgen, als Karl Koblewski sich mit einer Plastiktüte voll Medikamente und ein paar anderen Sachen, auf den Weg zur Suffsusl machte.
Bevor Koblewski in ihr Haus schlüpfte, prüfte er noch einmal eingehend die Lage: er wollte auf keinen Fall gesehen werden. Aber rundherum war alles ruhig und dunkel. Niemand war zu sehen, niemand war so blöd wie er!
Vorsichtigerweise hatte die Susl nirgends Licht gemacht; die Haustür war nur angelehnt…
Komisch, dass die Hunde gar nicht anschlugen!
Um ein Haar wäre Koblewski direkt auf die Susl aufgelaufen, da sie hinter der Tür schon auf ihn wartete. Kaum hatte er diesen Schreck überwunden, musste er sich voll darauf konzentrieren nicht bewusstlos zu werden.
Ein ekelhafter Gestank von Katzendreck machte das Atmen fast unmöglich.
Als die Susl Licht machte, kamen die Katzenviecher gleich rudelweise und laut miauend aus den verschiedensten Türen. Sie strichen Koblewski um die Beine und sprangen an ihm wie hungrige Kinder hoch. Auch auf den Schränken, Kommoden und Kredenzen entlang den Flurwänden wimmelte es von Katzen und selbst in den offenstehenden Schubladen und Fächern rekelten sie sich den Eindringlingen entgegen.
Koblewski schluckte ein paar Mal kräftig, um den aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken und trieb zur Eile; er wollte die ganze Angelegenheit schnellstens hinter sich bringen.
Die Susl steuerte ihren unförmigen Leib mit erstaunlicher Behändigkeit an all dem Gerümpel vorbei zu einer Kellertreppe, über die sie sich mit lautem Geächze hinunterwälzte. Karl Koblewski stolperte so gut er konnte hinter ihr her.
Leicht war das nicht, denn es war stockdunkel und außerdem hatte er Angst auf eine dieser blöden Katzen zu steigen, die ununterbrochen um ihn herumhuschten.
Am Ende der Treppe blieb sie endlich stehen, streifte die Katze von der Schulter, die es sich da gemütlich gemacht hatte und jagte das andere Katzenpack mit zischender Stimme die Kellertreppe hoch. Vorsichtig spähte sie durch die halb geöffnete Tür in einen leidlich beleuchteten Raum. Mit einem Wink gab sie Koblewski zu verstehen, dass er ihr folgen könne. Zögernd und mit einem leichten Herzklopfen trat er ein.
Der Raum war erstaunlich sauber und gemütlich. Von dem ekelhaften Katzengestank war hier nichts zu spüren.
Die Susl hatte auch sofort hinter Koblewski die Tür wieder geschlossen.
Udo lag gleich links neben der Tür mit geschlossenen Augen schwer atmend auf seinem Bett. Sein Gesicht glühte förmlich und war über und über mit dicken Schweißperlen bedeckt. Am Fußende des Bettes war ein großer Schrank, der bis zur Stirnseite des Zimmers reichte. Die Vorhänge des einzigen Fensters waren zugezogen, unmittelbar davor stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf der rechten Wandseite befand sich lediglich eine Kommode, die zur Tür hingerückt war, sodass um den Tisch relativ viel Platz war. Auf dem Tisch stand eine Thermoskanne mit Tee und Udos Abendessen, von dem er aber noch nichts angerührt hatte.
Die Susl trat an Udos Bett, zog die halb auf den Boden gefallene Bettdecke etwas hoch und strich mit ihrer rechten Hand über seine schweißnasse Stirn. Udo stöhnte, schluckte ein paar Mal und griff dann mit beiden Händen nach ihrer Hand. Sie ließ ihm die Hand und redete mit leiser Stimme beruhigend auf ihn ein. Auf ihrem verwüsteten Bulldoggen Gesicht schimmerte fast so etwas wie Zärtlichkeit, als sie hilfesuchend zu Koblewski schaute, der ihr aufmunternd zunickte.
Das Schwierigste war, Udo dazu zu bringen, sich von Koblewski untersuchen zu lassen. Aber die Susl schaffte das. Fast eine halbe Stunde saß sie an seinem Bett und streichelte abwechselnd seine Hände und sein Gesicht und erklärte immer wieder mit monotoner Stimme, warum es wichtig sei, dass Udo sich von Koblewski untersuchen lasse!
„Vor dem brauchst du keine Angst haben“, sagte sie, „der redet nicht, der hat auch damals, als er den Hausierer aus dem alten Steinbruch geholt hat, den Mund gehalten und nichts gesagt und der sagt auch von dir niemand etwas. Da kannst du ganz beruhigt sein…“
Udo lag mit weit geöffneten Augen da, schüttelte einige Male seinen Kopf und fuhr auch immer wieder aufgeregt in seinem Bett hoch. Aber die Susl konnte ihn immer wieder mit großer Fürsorglichkeit beruhigen.
Karl Koblewski war seltsam berührt, soviel zärtliche Zuwendung hätte er dieser Frau, die in Rodenbach wie ein Haufen Dreck behandelt wurde, nicht zugetraut. Und auch sich selbst musste er gehörig bei der Nase packen, schließlich hatte auch er ihr, genau wie alle anderen, nur Verachtung entgegengebracht.
Nach langem Zureden legte Udo sich endlich in seinem Bett entspannt zurück. Die Susl winkte Koblewski herbei.
„Jetzt kannst du ihn anschauen, der bleibt ruhig! Keine Sorge!“, sagte sie leise. Dabei wischte sie sich mit dem Handrücken verschämt über beide Augen.
Koblewski war einigermaßen ratlos, schließlich hatte er noch nie in seinem Leben jemand ernsthaft untersucht. Außer gelegentlich die Kinder, aber das war alles sehr oberflächlich gewesen! Im Ernstfall konnte man ja immer auf den Hausarzt zurückgreifen!
Andererseits spürte er aber auch, dass er die Susl jetzt nicht enttäuschen durfte. Für sie war er die letzte Hoffnung!
Udo schien Vertrauen zu Koblewski zu haben. Bereitwillig ließ er die Untersuchungsprozedur über sich ergehen. Und Koblewski tat alles, was er von seinen wenigen Arztbesuchen in Erinnerung hatte. Erst wurde Fieber gemessen und der Puls gefühlt, dann tastete er die Drüsen am Hals und in der Leistengegend ab, schaute ob irgendetwas mit dem Blinddarm war und horchte mit dem Abhörgerät aus Nikis Arztkoffer Brust und Rücken ab, wobei er Udo auch immer mal wieder husten und tief atmen ließ.
Zuletzt überprüfte er auch noch die Zunge und die Rachenpartie!
Da Udo fast vierzig Fieber hatte, sehr flach atmete, Schmerzen im Bauch und in der Brust hatte und viel grünen Schleim spuckte, tippte Koblewski auf eine schwere Lungenentzündung. Er war froh Antibiotikum dabei zu haben, denn er hatte so etwas Ähnliches vermutet und sich auch schon im Internet vorab schlau gemacht!
„Der Udo hat eine saftige Lungenentzündung!“ sagte er zur Susl und ließ sich keinerlei Zweifel anmerken, denn die hätten in der jetzigen Situation niemanden geholfen.
Susl nahm die Aussage von Koblewski äußerlich gefasst entgegen und starrte mit weit geöffneten Augen auf Udo, der kurzatmig und teilnahmslos in seinem Bett lag, so als ginge ihn das alles nichts an.
„Kein Grund zu irgendeiner Panik“, sagte Koblewski und gab ihr einen aufmunternden Klaps auf die Schulter.
„Mit dem Antibiotikum, das ich dabeihabe, kriegen wir das alles sehr schnell in den Griff und dem Udo müsste es schon bald viel bessergehen!
Und da die Susl wässerige Augen bekam, fügte er hinzu, dass für Sentimentalitäten jetzt keine Zeit sei.
„Ganz wichtig ist, dass du ihm dreimal täglich nach den Mahlzeiten eine Kapsel mit viel Wasser von dem Antibiotikum gibst und zwar die gesamte Packung, und außerdem musst du ihm zur Absenkung des Fiebers mehrmals täglich kalte Wadenwickel machen! Kannst du das?“
Da sie nickte, sagte er, okay, und dass sie täglich auch noch das beruhigende Schmerzmittel geben solle, das er dabei habe, und das auch Niki immer bekam, wenn er krank war!
Außerdem versprach er übermorgen um drei Uhr in der Nacht wieder vorbei zu schauen. Beim Hinausgehen strich Koblewski Udo über den Kopf und sagte, „das wird schon wieder, Udo! Keine Sorge!“
Udo öffnete kurz die Augen und griff nach Koblewskis Hand.
Die Susl begleitete Koblewski hinaus.
Vor der Zimmertür lauerten wieder die Katzen. Zwei ihrer Lieblinge durften sich wie vorhin auf ihren Schultern niederlassen, den Rest jagte sie weg.
Vor der Haustür fragte sie Koblewski, was sie ihm schuldig sei. Dieser winkte ab und sagte, dass er gern geholfen habe, „und wenn der Udo wieder gesundwird, dann ist das Entschädigung genug! Drum schau bitte, dass er die Medikamente nimmt“
Die Susl war sichtlich gerührt und bedankte sich gleich mehrmals hintereinander, sie sagte mit ihrer krächzenden Stimme, „du bist ein guter Mensch Koblewski, außer dem Udo der Einzige den ich kenne…!!“
„Na, na“, sagte Koblewski und wurde verlegen. Er sagte etwas von selbstverständlich und so, obwohl er wusste, dass seine Hilfe alles andere als selbstverständlich war und inständig hoffte, dass ihn niemand sah, wenn er sich jetzt aus ihrem Hoftor schlich!
Als Koblewski daheim war, brauchte er sich gar nicht mehr hinzulegen.
Es war fast sechs Uhr! Er holte sich die Zeitung herein und machte es am Esstisch mit einer frisch gebrühten Tasse Tee gemütlich. Ehrlich gesagt war er auch gar nicht müde, vielleicht auch deshalb, weil er endlich geholfen hatte! Hoffentlich war’s auch eine Hilfe, dachte er, als er den Bericht über den Krieg in der Ukraine las, bei dem es schon mehr als hunderttausend Tote gab.
Schon zwei Nächte später konnte die Susl Koblewski berichten, dass das Fieber auf Achtunddreißigfünf zurückgegangen war. Koblewski fielen gleich mehrere Steine vom Herzen, am liebsten hätte er sie vor Freude über diese frohe Botschaft gleich umarmt; er drängte darauf Udo gleich noch einmal anzuschauen.
Udo lag wie ein braves Kind schlafend in seinem Bett. Die ungesunde Rötung seines Gesichtes war weg und sein Atem wesentlich ruhiger. Er hatte einen frischen Pyjama an und auch das Bettzeug war gewechselt worden. Koblewski kontrollierte die Wadenwickel und die Antibiotika – kapseln. Aber es gab nichts zu beanstanden.
„Alles paletti!“ sagte er und bestimmt merkte auch die Susl wie schlagartig alle Anspannung bei ihm abfiel.
Koblewski betonte noch einmal, „wie sehr er sich freut, dass der Udo auf das Medikament so gut anspricht! Allerdings ist es noch zu früh, um Endgültiges sagen zu können. Das ist frühestens in zwei Wochen möglich!“
„Wichtig ist, dass du und der Udo meine Anweisungen genau weiter befolgen und dass der Udo nicht leichtsinnig wird, wenn es ihm besser geht! Er muss unbedingt zwei Wochen im Bett bleiben!
Und auch dann muss er vorsichtig sein und gut auf sich aufpassen!“
„Ein Rückfall wär’ jetzt echt tödlich!“ sagte Koblewski mit ernstem Gesicht
Die Susl versprach hoch und heilig alles zu befolgen und bestens auf Udo aufzupassen. Koblewski hatte in diese Hinsicht auch keine Sorge, denn besser als bei ihr, war der Udo nirgends aufgehoben. Sie schluchzte ja fast vor Glück, als sie dem schlafenden Udo übers Gesicht strich.
KH