Unlängst wurde ich von einem Gedicht überfallen, das mich im wahrsten Sinn des Wortes umgehauen hätte, wenn ich nicht schon gesessen wäre: wahrlich kein freundliches Gedicht, manche nennen es sogar ein „schauriges“ Gedicht. Und interessant und höchst erstaunlich ist, dass es die wenigstens von uns kennen, obwohl der „Verursacher“ in unser aller Köpfe ist.
„Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein“
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab‘ ich Stein auf Stein gelegt
und stand schon wie ein kleines Haus, um das sich groß der Tag bewegt;
sogar allein.
Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.
Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut,
sie sieht nicht, dass da einer baut.
Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein.
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Die Vögel fliegen leichter um mich her;
Die fremden Hunde wissen: der ist der,
Nur einzig meine Mutter kennt es nicht
Mein langsam mehr gewordenes Gesicht.
Von dir zu mir war nie ein warmer Wind;
Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind.
Sie liegt in einem hohen Herzverschlag,
und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag.
Diese Mutter, Phia, stammt aus einer wohlhabenden Familie, der deutschsprachigen Oberschicht in Prag. 1873 heiratete sie den Bahnbeamten Josef Rilke, dessen Offizierskariere gescheitert war und den Max Brod einmal als einen „eleganten Schwerenöter“ bezeichnet hat.
Die Ehe war nicht glücklich. Nach zwölf Jahren trennte man sich. Das erste Kind, ein Mädchen, starb kurz nach der Geburt. Vielleicht war es der Schmerz über diesen Verlust, der die Mutter dazu bewog, den 1875 geborenen Knaben namens Rainer Maria nur mit Puppen spielen zu lassen und ihn bis zum sechsten Lebensjahr als Mädchen zu verkleiden. Als er zehn Jahre alt war wurde er auf die Militärakademie geschickt wo er nach eigenem Bekunden, fürchterlich gelitten hat.
Seine Mutter Phia, soll eine ausgesprochene fromme, zum Esoterischen neigende Person gewesen sein.
Rilke hat das Gedicht am 14. Oktober 1915 in München für seine damalige Geliebte, die Malerin Loulou Albert – Lasard geschrieben. Sie hatte ihm von dem problematischen Verhältnis zu ihrem Vater erzählt. Rilke widmete ihr das Gedicht „zum Trost und als Zeichen der Anteilnahme“, wie er sagte.
Wenige Tage vor der Niederschrift hatte Phia ihn noch besucht. Es war die letzte Begegnung von Mutter und Sohn.
1926 erlag Rilke einer Leukämie. Das Gedicht erschien erst 1952 in Loulou Erinnerungen.
Die Mutter, die 1931 starb hat nicht mehr lesen müssen, wie ihr fast vierzigjähriger Sohn noch nach Jahrzehnten unversöhnt klagte, „Ach weh, meine Mutter reißt mich ein…“
KH
PS: Rainer Maria Rilke „Gedichte“ Inselverlag, Berlin 2021 und Ullrich Greiner FAZ