Carl und Gerlinde (63)
Schlimmer hätte für Carl das neue Jahrzehnt nicht beginnen können! Dabei fand er Gerlindes Idee, den Übergang in dieses allein schon von der Zahlensymmetrie außergewöhnliche Jahr 2020 nur mit ihren besten Freunden Hannelore und Kurt zu feiern, sofort grandios.
Es begann auch alles so herrlich beschwingt! Gleich am Anfang der fruchtige, prickelnde Begrüßungssekt und der würzige Meeresfrüchtesalat, mit dem sich Hannelore echt selbst übertroffen hatte und der wirklich nur mehr von dem sagenhaften Hauptgericht der beiden kochfreudigen Damen getoppt wurde: ein fantastischer, zartrosa gebratener Lammrücken, mit exzellent auf den Punkt geschmorten Zucchini, Brokkoli, Tomaten, Paprikaschoten und Auberginen und dazu noch diese himmlischen, geviertelten Rosmarinkartöffelchen.
Der süffige Chablis, den Kurt beisteuerte, setzte dem Ganzen im wahrsten Sinn des Wortes die Krone auf – köstlicher konnte man das alte Jahrzehnt nicht ausklingen lassen – und das neue nicht beginnen! Vor allem da man sich unmittelbar danach noch in einer weiteren Steigerung des Genusses, höchst beschwingt, gegenseitig küssend und beglückwünschend am Balkon von Kurts und Hannelores Wohnung, dem immer wieder überwältigenden jährlichen Feuerwerksspektakel im mitternächtlichen Himmel über der Stadt hingeben konnte! Von der Choreografie her ein perfekter Abend!
Wann und warum diese ausgelassene Stimmung dann plötzlich kippte, konnte vermutlich niemand der Beteiligten genau fest machen. Tatsache war aber, dass Gerlinde und Kurt vollkommen unerwartet plötzlich mit todernsten Mienen auf das kriegsähnliche Geknalle und permanente feurige Aufleuchten der Raketen starrten und in monotonem Ton, wie Gebetsmühlen, ununterbrochen auf die verheerenden Umweltschäden und katastrophalen Folgen für das Weltklima hinwiesen…
Für Carl ein Grund, um von einer Sekunde auf die andere, Rot zu sehen!
Bitte nicht jetzt auch noch das Silvesterfeuerwerk verteufeln – bitte nicht,“ jaulte er und ließ sich stöhnend wie ein waidwundes Tier auf die Sitzbank an der Rückwand des Balkons fallen.
In Deutschland darf man sich wirklich über nichts mehr freuen, ohne von irgendwelchen Umweltaposteln auf das Perfideste angefeindet und zurecht gewiesen zu werden…
Und Kurt, am besten fährst du deinen neuen SUV gleich Morgen zum Auftakt des neuen Jahres auf den Schrottplatz und Gerlinde und Hannelore canceln währenddessen ihre für April geplante vierwöchige Kreuzfahrt zu den Galapagosinseln und um die Südspitze des amerikanischen Kontinents, um endlich wieder guten Gewissens und aufrechten Ganges durch saubere Deutsche Landschaften schreiten zu können!“
Im sicheren Bewusstsein, dass er, Carl, in dieser permanent moralisierenden Klimawandelbande, das unauffälligste Scham-Portfolio (bestehend aus Flugscham, Reisescham, Dieselscham, Fleischscham) hatte, hob er breit grinsend sein halbleeres Sektglas und prostete genussvoll seinem schamlosen Gegenüber zu…
Doch als er plötzlich Gerlindes rote Flecken auf ihrem Hals im unsteten Flackern des immer noch anhaltenden Feuerwerks bemerkte und auch Kurts verkniffenes Grinsen, ahnte er, dass in den nächsten Sekunden des neuen Jahres da noch etwas Unerwartetes auf ihn zukommen werde.
Diese Ahnung bestätigte sich auch sofort, als Kurt in beängstigend ruhigem Ton, begleitet von Gerlindes lauerndem Blick, ihn plötzlich scheinheilig fragte, „sag Carl du arbeitest doch in der Textilbranche, wenn ich mich recht entsinne?“
„Richtig“, sagte Carl lächelnd.
Und da sogar in einer gehobenen, verantwortungsvollen Position?“
„Ja!“
„Dann ist dir ja auch sicher bekannt, dass die Bekleidungs- und Textilindustrie mehr Emissionen verursacht als Fliegen und Schifffahrt zusammen“.
„Ist das so?“
„Ja – mehr als 5% der globalen Emissionen werden allein für neue Kleider verbraucht – Tendenz steigend! Seit 2000 hat sich der Absatz an neuen Kleidern mehr als verdoppelt, lieber Carl und kommt auf hundert Milliarden Teile pro Jahr – laut FAZ…“
„Ich hab leider nicht so viel Zeit wie du, Kurt, um die FAZ täglich zu lesen.“
„1,2 Milliarden Tonnen CO2 bläst die Branche jedes Jahr in die Luft, was der Treibhausbilanz von Russland entspricht“.
„Oh Gott in was für einem Saustall arbeite ich eigentlich?“ stöhnte Carl und stürzte in seiner Verzweiflung das frisch gefüllte Sektglas aus Hannelores Hand in einem Zug hinunter.
„Dabei, lieber Carl“, sagte Gerlinde unerwartet, „hat der gute Kurt das gesamte Kunstfaserproblem gnädiger Weise komplett außen vor gelassen.“
„Danke für diese Gnade“, sagte Carl süffisant, stand nach einer kurzen Pause aber plötzlich auf, wankte wortlos vom Balkon durch das Wohnzimmer zur Garderobe, nahm seine Mantel und seilte sich grußlos von seiner Silvestergesellschaft ab – in die erste milde Nacht des Jahres 2020!
„Vielleicht sollte ich ‚alte Umweltsau‘ für das kommende Jahr doch noch einen Grunzkurs buchen,“ sagte er nach einem befreienden Jauchzer in die Pulver geschwängerte Nacht halblaut zu sich selbst – dann hab ich wenigstens etwas Eigenes! Aber bevor er diesen Gedanken noch zu Ende gedacht und ausgesprochen hatte, hörte er hinter sich schon Gerlindes besorgte ‚Carl – Carl‘ Rufe! Was ihm nach all dieser erlittenen Demütigung und Scham schon gut tat, wenn er ehrlich war. Selbst wenn sie bis vor wenigen Augenblicken noch Kurts Verbündete war…
KH