Carl und Gerlinde (74)
Vielleicht war es diese andauernde Hitze? Oder das bedrückende politische Chaos in Europa? Oder dieses ständige Geschwafel vom Klimawandel und seinen verheerenden Folgen? Oder das permanente Gejammer über die steigende Inflation, die Carl, wie alle Deutsche und Deutsch(innen) etwas seltsam werden ließ, da er und sie fürchteten letztlich doch in eine ausweglose Armut getrieben zu werden – und damit immer näher hin zum Waschlappen, den ihnen ein namhafter deutscher Politiker jüngst ans Herz gelegt hatte.
Da rückte urplötzlich auch der wöchentliche Familieneimer – gefüllt mit kaltem Wasser – in eine nie mehr vermutete Reichweite! Der Familieneimer aus dem sich Vater, Mutter und Kind eine Woche lang mit 2 Waschlappen – einen für oben und einen für unten – reinigten!
Selbst wenn der eine oder andere Klugscheißer diese Vision belächeln mochte, sollte er doch bedenken, dass zur Rettung der Ampelkoalition und der Bewältigung, der von Putin angezettelten Gasmisere, so ein leichter Anstieg des ‚deutschen Geruchspegels‘ durchaus höheren Orts gewünscht werden könnte. Schließlich war ein derartiger ‚geruchlicher Schritt‘ in Richtung Ziegenstall, auch aus ökologischer Sicht höchst begrüßenswert: zählten doch sämtlich körpernahen Insekten, einschließlich der Stubenfliege, längst schon zu den bedrohten Arten!
Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich das Geruchsmilieu in der durchschnittlichen deutschen Familie insbesondere nach der Wende noch einmal drastisch verändert hatte: ausgelöst durch übertriebenes tägliches Duschen sowie einer verhängnisvollen Ächtung des heimischen Waschlappens, gepaart mit der natürlich unnatürlichen extensiven Anwendung von chemischen Reinigungsmitteln sowie diverser Deodorants und Parfüms.
Das mochten die vormals unzähligen kleinen Krabbler, Sauger und fliegenden Kitzler gar nicht und machten sich still und heimlich vom Acker und den Gärten sowie den menschlichen Leibern! Und mit ihnen auch gleich der Singsang der Vögel in den Gärten, denn die hatten plötzlich leider nix mehr zu futtern…
Aber wen störte das schon in der Hektik des Alltags und den Plagen der Arbeitswelt? Gerlinde jedenfalls nicht!
Im Gegenteil: sie genoss in vollen Zügen die Tatsache, dass an ihr nichts mehr herumstach, saugte und krabbelte, wenn sie schwitzend im Garten herumbuddelte! Herrlich sei das – einfach herrlich, dass man neuerdings sich auch Sommers in seinem eigenen Garten bewegen konnte, ohne anschließend zwei Wochen lang von juckenden Pusteln geplagt zu werden. Für sie sei auch dieses ewige Geplärr über das Artensterben in den Medien, nicht nachvollziehbar, betonte sie aufmüpfig immer wieder gegenüber Carl, wenn er den wissenden Biologen herauskehrte, und jede Reduktion der Artenvielfalt im Reich der Tiere bedauerte, aber bei der Geschlechtervielfalt des Homo Sapiens, gerne von der Zahl 72 runter gekommen wäre…
Aber Gerlinde fand es einfach toll, dass sie neuerdings nach einem heißen Tag auch Nächtens die Fenster offenlassen lassen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass sich gleich ein Wespenschwarm einnistete oder dicke Fliegen schon im Morgengrauen um sie herumsummten. Auch keine Schnaken oder Gelsen, wie die Österreicher sie nannten, labten sich unbefugt an ihrem süßen Blut während sie schlief. Ach das war sooo schön!!!
Und neuerdings belächelte sie sogar schon ihren emsigen Carl, der plötzlich anfing sich um jede verirrte Stubenfliege persönlich zu kümmern, wenn die sich zufällig einmal in eine der Räumlichkeiten seines Hauses verirrt hatte. Ja er schien tatsächlich infolge der plötzlichen Seltenheit der Stubenfliege zu einer Art ‚Fliegen Coach‘ mutiert zu sein, wenn er so abends die verirrten Tierchen mit ‚Licht-ein‘, ‚Licht-aus‘ Signalen quer durchs Haus in die Freiheit lotste. Auch tagsüber befreite er, wann immer er konnte, sowohl alle Fliegen als auch Bienen und Wespen aus den für sie fast immer tödlichen ‚Fensterscheibenlichtfallen‘!
Doch, dass er dabei immer wieder betonte, dass ihn am meisten deren aussichtslose Situation berührte, in die diese Tiere geraten waren, fand sie bei allem Wohlwollen mit den Jahren dann doch schon etwas nervig: ja – für ihn war eben jede Art von Aussichtslosigkeit einfach unerträglich. Da musste er einfach reflexartig einschreiten und helfen – egal, ob es eine Ameise, eine Fliege oder ein Kind war: alles andere war für ihn unerträglich. War ja irgendwie toll, aber sie wusste es nun wirklich schon und wollte es bitte nicht mehr hören! Und wozu es eigentlich Fliegenklatschen gab schien er auch vergessen zu haben, ihr sensibles Carlchen…
KH