Corona und der Verlust der Nähe

Bevor Covid 19 nach mehr als 10 Jahren und aktuell 70 Folgen auch die erfolgreiche Serie ‚Carl & Gerlinde‘ mundtot macht, drängen Carl und Gerlinde samt ihrer metaphorischen Hühnerschar nun doch auf ein Revival ihrer Serie: d.h. ab sofort startet mit Folge (1) aus dem Jahr 2011 eine wöchentliche Neuauflage! Und dazwischen gibt es natürlich immer wieder auch weitere Folgen, die sich mit dem aktuellen Geschehen befassen. Viel Spaß dabei!

 

Carl und Gerlinde (69)

Was nützte Carl sein grandioser Erfolg mit der von ihm angestoßenen Produktion von Mundschutzmasken bei TRIGA – samt gigantischer Verkaufszahlen – wenn er und seine Gerlinde auf der ausgedörrten „gesellschaftlichen Corona Wüste“ immer mehr verkümmerten?

Und natürlich musste ja zu der verfahrenen Situation auch noch diese ‚zweite Coronawelle‘ daherkommen, die mit tödlicher Sicherheit noch schlimmer wütete als die erste: die nervtötende Finsternis, Nässe und Kälte der Wintermonate würde gewiss dafür sorgen. Dabei liefen in der Firma ohnehin schon alle ganztägig, hygienisch gesteuert, mit Schutzmasken – Marke Eigenerzeugung – herum, und wehe jemand wagte sich enger als auf Armlänge zu nähern, dann schallten sofort gellende Warnsignale durch die Hallen und Gänge der Firma und die Übeltäter oder Übeltäterinnen schleppten tagelang erkennbare Spuren der Scham hinter sich her – und Mehrfachtäter traf gnadenlos der anhaltende Bann der gesamten TRIGA – Belegschaft!

Carl hasste diese Blockleiterstimmung!, die neuerdings in der Firma um sich griff. Er litt echt schwer darunter: für ihn war die Nähe zu seinen Mitarbeitern unentbehrlich! Er benötigte dieses Gefühl der Nähe, nicht nur zu Bettina, seiner Sekretärin und zu Miriam, der Chefdesignerin, sondern auch zu allen anderen Kollegen und Kolleginnen – ja sogar selbst zu seinem Chef Dr. Osterkorn, den er sonst wirklich nicht jeden Tag küssen wollte.

Aber noch schlimmer war letztlich, dass ihm nicht nur das freundschaftliche Gespräch mit den Menschen fehlte, mit denen er seit Jahr und Tag zusammenarbeitete – sondern – und das empfand Carl besonders beschämend und unwürdig – dass sich sukzessive von Tag zu Tag und Woche zu Woche mehr, eine Art Misstrauen und Angst selbst gegenüber den vertrautesten Mitmenschen in ihm aufbaute, da diese ja vielleicht gestern und heute noch ‚sauber‘ waren, aber morgen und übermorgen schon von diesem verdammten Virus befallen sein konnten: wie sollte er, Carl, denn wissen, mit wem Bettina und Miriam oder Hans Kaltenbach, der Lagerleiter, oder Viktor Ungemach, der Pförtner gestern oder morgen und übermorgen zusammen gekommen waren und noch kommen werden und wen diese Kontaktpersonen ihrerseits wieder kontaktiert hatten und so weiter und so weiter…

Für Carl, der sonst nicht als Sensibelchen galt, stellte sich in letzter Zeit wirklich immer öfter die Frage, ob er abends, wenn er abgeschafft aus dem Büro heimkam, überhaupt noch seiner lächelnden Gerlinde das übliche Begrüßungsküsschen geben durfte? Oder ob er nicht vorher sich erst sicherheitshalber unter der heißen Dusche von allen heimlichen und unheimlichen Gefährdern befreien musste? Denn jeder vorschnelle zärtliche Klaps auf Arm oder Po konnte doch der Anfang vom Ende sein? Insbesondere bei ihm, da er um vieles älter als Gerlinde war?

Ja! – und sein Verlangen zu wissen, welche Kontakte Gerlinde tagsüber gehabt hatte, wurde auch permanent drängender: war nicht vor zwei Tagen erst die jährliche Wartung der Heizung gewesen? Trug da denn der Heizungsmonteur einen Mundschutz oder kam er wie die meisten Handwerker einfach ‚ohne‘ daher? Oder wie nahe war sie der Nachbarin beim Bäcker gekommen? Und drückte ihr der Postbote den Prospekt von Gerry Weber direkt in die Hand oder hatte sie ihn aus dem Briefkasten geholt? Oder, oder, oder ? Schlimm war das, wie sich dieser Zwang nach Überwachung von Tag zu Tag tiefer in sein zunehmend verblödetes ‚Corona-Gehirn‘ bohrte?

Gerlinde ging es nicht besser: ihr heiteres, lebenslustiges Wesen kam ihr spürbar immer mehr abhanden und die bevorstehenden finsteren Tage und Wochen würden diese Tendenz bestimmt verstärken…

Darum war Carl letztlich auch gar nicht sonderlich überrascht, als Gerlinde letzten Dienstag Abend ihm vorschlug, bei den großzügigen räumlichen Möglichkeiten im Haus, doch wenigstens vorübergehend getrennte Schlafzimmer einzurichten? Das wär‘ doch eine Überlegung wert – oder?

Außerdem hätten ihre Recherchen im Internet gezeigt, dass es gar nicht soviel kostete, wenn im Küchen- und Wohnbereich rein prophylaktisch so Plexiglasbarrieren wie bei den Supermarktkassen aufgestellt würden! Das wär‘ doch keine schlechte Idee?, meinte sie mit unsicherem Lächeln und würde sie beide endlich effektiv schützen, was ja aus Altersgründen für ihn noch wichtiger wäre, als für sie…

Hm – brummte Carl, wohl eine typische ‚win-win Situation‘, fischte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und verkrümelte sich ohne ein weiteres Wort auf die kalte, stockdunkle Terrasse – grad so, als hätte er nur auf das Startsignal für den weiteren Abbau von Nähe gewartet…

KH

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