Zur Abwechslung hier einmal ein ‚Thriller‘! Mit etwas Glück kommt jetzt jeden Sonntag ein Kapitel. Vielleicht haben einige die Nerven und halten bis zu Kapitel 19 durch?
Das Bild ist übrigens auch von Martina Roth.
Kapitel 13
2003 – Der Kuss
Wladimir hatte es geahnt, vielleicht sogar gewusst als er mit Boris vormittags auf Verdacht zur ‚La Clinique Verte’ geeilt war! Und Celine schien widererwarten doch funktioniert zu haben. Jedenfalls stand sie wie aus dem Boden gewachsen auf einmal in einem der langen Gänge des verwirrenden Klinikgebäudes, sogar ohne Kopfverband, nur mit einem großen Pflaster über dem rechten Auge. Gerade so als hätte sie den Auftrag, die beiden energischen Herren zu empfangen, die sich ziemlich polternd in lautem Russisch Zugang zu den Räumlichkeiten der Plastischen Chirurgie verschafft hatten und sich gebärdeten als gehörte ihnen nicht nur die Klinik, sondern die ganze Welt.
Celine wusste offensichtlich Bescheid und lenkte Wladimir und Boris direkt in Richtung OP – Bereich!
Nein, hinein durften sie nicht, das war unmöglich!
Aber wenn sie ein dringendes Anliegen hätten und darum bäten, wäre der Klinikleiter, Dr. Hugo L., eventuell bereit zu ihnen herauszukommen, meinte sie, ohne irgendeine Regung in ihrem abgeschlafften, aber nicht unhübschen Gesicht. Noch sei das möglich flüsterte sie, die OP an Elsbeth sei erst in einer Stunde angesetzt. Elsbeth läge schon im Vorbereitungsraum und werde in Kürze anästhesiert!
Wladimir konnte nicht verhindern, dass Celine wenige Meter vor dem OP–Bereich wieder in einer der vielen Türen verschwand; genau so überraschend wie sie aufgetaucht war.
Wladimir war erregt. Sein Gesicht stark gerötet. In seinen Augen spiegelte sich eine aufgestaute Lust zur Aggression. Sein weißer Kittel und seine imposante Gestalt verschafften ihm Respekt. Nur deshalb gelang bisher auch dieser schlecht vorbereitete spontane Überrumpelungscoup. Boris lief ratlos hinter seinem Chef her, ihm schien die ganze Aktion peinlich zu sein. Trotz Verbot riss Wladimir die Tür zum OP–Bereich auf, stürmte an dem aufgeschreckten Klinikpersonal vorbei und verlangte dröhnend in Russisch und Französisch nach dem leitenden Arzt der Plastischen Chirurgie.
Da gerade operiert wurde, breitete sich in der verschreckten Mannschaft Unbehagen aus. Ärzte und auch Schwestern in grüner OP–Kleidung, die alles Individuelle auslöschte, wandten sich verärgert den Eindringlingen zu.
Dr. Hugo L., der entlang eines ausgedehnten Schnittes im Kieferbereich eines Patienten Blutgefäße abklemmte, erfasste sofort die Brisanz der Situation, forderte alle zur Ruhe auf, übergab an eine Kollegin und kam Wladimir ruhig und gefasst entgegen; er fragte, als wär’ es die normalste Sache der Welt, nach Wladimirs Begehr: man helfe gerne, wann immer man könne! Auch Boris nickte er, wie einem alten Bekannten, freundlich zu. Diese stoische Gelassenheit verunsicherte Wladimir. Er fasste sich zwar schnell wieder, konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass nach einem erstaunten „Oh, sorry“, aus Dr. Hugo L.’s Mund, begleitet von einer Armbewegung, die Hilflosigkeit signalisierte, er samt Boris von vier kräftigen klinikinternen Sicherheits-Leuten in schwarzen Uniformen umstellt und ohne einen weiteren Kommentar, energisch aus dem OP–Bereich geschoben wurde.
Dr. Hugo L. rief Wladimir lachend nach, dass er gleich käme, er wolle sich nur rasch umziehen.
Als er auftauchte, wies er das Sicherheitspersonal an, es gut sein zu lassen und entschuldigte sich für deren ruppiges Vorgehen.
Wladimir hatte sich wieder unter Kontrolle und erwiderte die schmierige Freundlichkeit mit einer Entschuldigung seinerseits, aber er käme in einer dringenden Angelegenheit, die keinerlei Aufschub dulde. Schon gar nicht wolle er, dass Dr. Hugo L. unnötige Schwierigkeiten von oben bekäme – er deutete dabei tatsächlich nach oben – weil ihm vielleicht die jüngste Order von ‚W.S.’ vor zwölf Wochen in Sache A. nicht bekannt sei.
„Wie fürsorglich“, sagte Dr. Hugo L. lächelnd und bat Wladimir ihn doch einfach ‚Hugo’ zu nennen; den Sicherheitsleuten gab er endgültig zu verstehen, dass ihre Hilfe nicht mehr benötigt wurde. Dann bat er Wladimir und Boris in den kleinen Besprechungsraum, vor dessen offener Tür sie gerade standen und fragte, ob er mit einer Tasse Kaffe etwas gut machen könnte. Wladimir lehnte dankend ab, schob Zeitmangel vor, und fischte ohne sich zu setzen aus der Brusttasche seines Hemdes ein von ‚W.S.’ unterzeichnetes Dokument hervor, in dem er aufgefordert wurde, Elsbeth Kant schnellstmöglich beizuschaffen und A. in angemessener Weise zuzuführen!
Hugo überflog das Schreiben und gab es mit dem knappen Kommentar zurück, dass er ebenfalls eine ähnlich geartete Botschaft bekommen hätte.
Aber vielleicht sollte er sich auch diese Audio-Botschaft, die auch noch für ‚W.S.’ gedacht sei, anhören, wenn seine knapp bemessene Zeit das zulasse, sagte Wladimir lauernd und reichte ihm die Kopfhörer seines CD – Abspielgerätes. Ohne jede Regung hörte sich Hugo Elsbeths verzweifelte Klage an und gab alles lächelnd an Wladimir zurück.
„Interessantes Material“, sagte er, „wie lautet Ihre Bedingung Wladimir, ich darf Sie doch so nennen“?
„Gerne, da wir doch Freunde sind und uns vor Ungemach gegenseitig schützen wollen! Nun, die Bedingung lautet in unser beider Interesse, dass Sie die CD, samt allen Kopien kriegen und wir im Gegenzug die Patientin Elsbeth Kant sofort mitnehmen können“!
„Natürlich, wenn Ihnen daran soviel gelegen ist! Ich hoffe sie ist transportfähig!“
„Um eine optimale Pflege sicher zu stellen, bitten wir auch noch um die Überlassung von Schwester Celine, die Elsbeths Zustand am besten kennt und mit den notwendigen Medikamenten und vorgesehenen Behandlungsschritten vertraut ist!“
„Wie die Herren wünschen, das Wohl unserer Patienten steht bei uns immer an oberster Stelle, alles andere ist nachrangig“, sagte Hugo sanft, obwohl Wladimir sicher war, dass er bereits die nächste Hinterfotzigkeit plante. Er nickte auch zustimmend als Wladimir sagte, es sei sicher auch in seinem Interesse, dass jetzt keine weiteren Komplikationen mehr aufträten.
‚W. S.’ würde das nicht mehr verstehen…!
„Natürlich, natürlich“, flüsterte Dr. Hugo L. beflissen, „ich gebe sofort Anweisung, dass alles Notwendige für eine reibungslose Übergabe veranlasst wird!“
Wladimir bat, mit Boris sofort zu Elsbeth geführt zu werden und kurz mit ihr reden zu können, danach würde er die CD übergeben und die 3 Kopien innerhalb 12 Stunden durch Boris überbringen lassen.
„Gut – dem steht nichts im Wege“, sagte Hugo nach kurzem Zögern und bat die Herren ihm in den OP-Vorbereitungsraum zu folgen.
Celine stand schon an Elsbeths Bett.
Elsbeth lag blass und apathisch in ihrem OP–Hemd auf der Bettdecke, bereit alles über sich ergehen zu lassen. Ihr strohiges Haar wirkte verklebt, das Gesicht durchsichtig und die erschreckend dünnen Arme übersät mit blauen Flecken lagen wie weggeworfen neben ihrem schmalen Körper. Als sie Wladimir sah, schimmerte ein schmales Lächeln über ihr müdes Gesicht; Boris erregte ihr Missfallen. Mit einem „oh Gott, der schon wieder“ drehte sie ihren Kopf weg.
Hugo sagte konziliant, „na wie geht es denn unserer von allen begehrten Patientin heute?“
Sie starrte ihn schweigend an!
„Ich hoffe, dass unsere Patientin nichts dagegen hat, wenn wir sie aus unserer Obhut entlassen und in die Klinik unserer russischen Kollegen überstellen. Sie kann sicher sein, auch dort bestens betreut zu werden!“
„So gut wie hier, bestimmt“, flüstere Elsbeth tonlos, während sie weiter Dr. Hugo L. fixierte.
„Und unsere tüchtige Schwester Celine wird noch zusätzlich darüber wachen, dass unsere Patientin immer in den besten Händen ist“, sagte Hugo mit einem Blick, der keinen Zweifel ließ, dass er Celine, wenn es möglich gewesen wäre, auf der Stelle liquidiert hätte: vermutlich mit dem üblichen Genickschuss für Verräter.
„Auch, wenn die Patientin uns bedauerlicher Weise verlässt, haben wir ja als Trost immer noch die ergreifende Hörprobe, die mein Freund Wladimir mir freundlicher Weise überlässt“, sagte er mit einem milden Blick auf Elsbeth.
Celine drängte zum Aufbruch!
Der Krankentransport stünde schon bereit, sagte sie und schob Elsbeth in ihrem Krankenbett beherzt in Richtung Ausgang.
Die Herren verabschiedeten sich auf dem Gang. Wladimir übergab Hugo die CD samt Abspielgerät. Mit freundlichem Händedruck ging man auseinander.
Bei Boris deponierte Dr. Hugo L. noch herzliche Grüsse an seine tüchtige Kollegin Karin S., falls er zufällig mit ihr telefonierte oder sie sähe. Aber gerne, sagte Boris irritiert!
Elsbeth blieb skeptisch! Selbst als der Krankenwagen bereits auf dem Weg, in die unzählige Male, zugesagte Spezialklinik in der russischen Enklave war, rechnete sie immer noch mit einem plötzlichen Abbruch der Aktion. Warum auf einmal diese Wendung? Wo war der verdammte Haken?
Celine saß im Krankenwagen neben Elsbeth und bemühte sich ihre belanglosen Fragen zu beantworten. Sie ließ keine Pause entstehen. Elsbeth musste bei Laune gehalten werden und sollte nicht in ihren üblichen grüblerischen Pessimismus abdriften.
Wladimir saß mit Boris neben dem Chauffeur, um sicherzustellen, dass wirklich nichts mehr schiefging. Mit höchster innerer Anspannung suchte er alles unter Kontrolle zu halten. Er wies auch Boris an, rundum alles genau zu beobachten und jede noch so geringe Auffälligkeit ihm sofort zu melden…
Und dann endlich die Ankunft in der ‚Clinique la Chaumée’ in der russischen Enklave!
Wladimir wies Boris an, den Eingangsbereich kurzzeitig zu sichern und führte Elsbeth zu ihrem Leidwesen wie eine schwerkranke Patientin zu ihrem Apartment 33 in der siebten Etage: ab sofort ihr Apartment! Unfassbar!
Erstaunlich wie lange der Aufzug hochfuhr. Doch dann standen sie mitten drin. Erschöpft, voll Angst und doch auch glücklich umarmte Elsbeth den ihr freundlich zunickenden Wladimir. Er, der Riese, umfasste schützend ihre zerbrechliche Gestalt und gab ihr zum ersten Mal einen zaghaften Kuss auf ihre ausgetrockneten schmalen Lippen. Sie versuchte den Kuss zu erwidern, merkte aber wie ungeübt sie in dieser zärtlichen Gestik geworden war – und errötete.
Wladimir überging ihre Verlegenheit und sagte, dass sie in den nächsten Tagen prüfen solle, ob sie alles in der kleinen Wohnung vorfände, was sie zu ihrem Wohle und ihrer Bequemlichkeit benötige. Falls nicht, würde er es besorgen lassen.
Elsbeth konnte ihr Glück nicht fassen und schritt rastlos wie ein Tier im Käfig ihr kleines Reich ab. Fassungslos schaute sie in den frühlingshaften Garten und plapperte vergnügt vor sich hin…
Nein, nein, nein – sie könne und wolle es nicht glauben, sagte sie kopfschüttelnd wie ein Sprechautomat. Das sei unmöglich, dass sie auf einmal soviel Glück hätte, irgendetwas wäre da faul, ja oberfaul, denn das könne es nicht geben, das passe alles nicht zusammen und so weiter und so weiter…
Und da selbst Wladimir keine Chance sah ihren Redefluss zu stoppen machte er sich lachend aus dem Staub!
Und dann – endlich Tage der Erholung und Gesundung!
Professor Anatoli T. stellte nach einer ersten gründlichen Untersuchung bei Elsbeth neben ihrer Traumatisierung, die er zunächst glauben müsste, wie er sagte, da sie in ihrer Krankenakte stünde, vor allem eine katastrophale Verwahrlosung und Erschöpfung fest, die es vorsichtig und sorgfältig abzubauen gälte. An Medikamenten gäbe es ab sofort nur mehr, was unbedingt notwendig sei, denn die Leberwerte wären alles andere als gut! Elsbeth hatte auch ausdrücklich darum gebeten, dass nur Celine sie betreute – niemand anderer! Sollte Celine verhindert sein, wollte sie lieber alleine zurechtkommen als von Ersatzpersonal betreut zu werden.
„Und die Vase, trägst Du mir die noch nach?“ fragte sie Celine.
„Aber was, das warst doch gar nicht du, dass habe ich nur vor Hugo so behauptet“.
„Bist Du dir da sicher, dass ich das nicht war“?
„Absolut! Erst hatte ich ja wirklich vorgehabt, mich selbst zu verletzen, da ich plötzlich Angst bekam, Hugo könnte mich verdächtigen dir geholfen zu haben – aber dann spürte ich auf einmal, dass in dieser undurchdringlichen Finsternis jemand ins Zimmer trat und verkroch mich reflexartig unter deiner Bettdecke. Wagte nicht einmal zu atmen. Hörte so ein russisches Gemurmel, und bekam im nächsten Augenblick eins über den Schädel gebraten, dass mir alles verging; vermutlich war ich sogar kurz bewusstlos… Ohne deine dicke Bettdecke, die ich dir ja besorgt hatte, da du immer gefroren hast, hätte ich das bestimmt nicht überstanden. Warum mir das angetan wurde, ist mir aber bis heute ein Rätsel“, fuhr Celine, am ganzen Körper zitternd, fort und versuchte tapfer ein dünnes Lächeln…
„Was das für einen Sinn gehabt haben soll und wer das gewesen sein könnte, sei ihr vollkommen rätselhaft, so sehr sie auch grüble und grüble,“ fügte sie noch hinzu.
Elsbeth umarmte sie fürsorglich, sagte aber nicht, wen sie gesehen hatte, sondern meinte, „wir müssen beide auch hier sehr, sehr auf der Hut sein, Celine; Hugo ist bestimmt jetzt hinter uns beiden her“.
Aber es war ja nicht nur Hugo!