Warum mich…? (Kapitel 17)

Zur Abwechslung hier einmal ein ‚Thriller‘! Mit etwas Glück kommt jetzt jeden Sonntag ein Kapitel. Vielleicht haben einige die Nerven und halten bis zu  Kapitel 19  durch? 

Das Bild ist übrigens auch von Martina Roth.

 

Kapitel 17

2003 – Der Prinz

Aljoscha plauderte völlig unbekümmert mit Professor Anatoli T., als Elsbeth ihn nach Jahrzehnten wieder  sah!

Sie standen in der Nähe des kleinen aber noblen Hotels „La Russe“, vor dem etliche Tische und Stühle zum Kaffee trinken einluden. Mit Erfolg, alle Tische waren besetzt. Es ging munter zu, und die milde Septembersonne tat sicher ein übrigens…

Der Professor deutete im Gespräch mit Aljoscha immer wieder auf die gegenüber liegende Straßenseite, auf der gleich hinter einer breiten Steintreppe ein Park begann mit üppig blühenden Engelstrompeten zwischen kräftigen Oleandersträuchern und gut platzierten Töpfen voll afrikanischer Schmucklilien unter ausladenden Palmen.

Eine prächtige Kulisse! In der Mitte der Steintreppe stand auf der drittletzten Stufe ein „silberner Prinz“. Grandios geschminkt, absolut regungslos – aus silbrig glänzendem Metall gegossen, wie es schien; die kleine Krone war vielleicht ein bisschen affig, aber sonst war er perfekt.

Aljoscha schien „Living Dolls“ noch nie gesehen zu haben. Hingerissen deutete er mit großer Lebhaftigkeit immer wieder auf diesen „Silberprinzen“. Alles andere schien er nicht wahrzunehmen.

Ja er jauchzte jedes Mal auf, wenn der Prinz sich in Form einer kleinen eleganten Geste bei einem Spender verneigte. Für Aljoscha schienen diese Verbeugungen stets völlig unerwartete Überraschungen zu sein, er rechnete nicht damit, selbst wenn Professor Anatoli T. sie ihm ankündigte, weil sich wieder ein Kind oder Erwachsener mit einer Münze näherte.

Elsbeth, die wie abgesprochen ganz langsam durch den Park geschlendert kam, war erstaunt über Aljoschas kräftige Gestalt. Früher war er so asketisch schlank gewesen, sehnig und durchtrainiert. Sie hatte ihn auch deutlich größer in Erinnerung. Er überragte den Professor nur um einen halben Kopf und der war wirklich nicht groß.

Oh-oh – sein ehemals kräftiger brünetter Haarschopf war deutlich lichter geworden! Sogar etwas angegraut! Da musste sie sich ja mit ihren grauen Zotteln gar nicht länger schämen? Toll! Sein etwas breiteres, braunes Gesicht hatte, soweit sie das vom Park aus sehen konnte, immer noch einen Hauch jungenhafter Hilflosigkeit, an der sie sich nie satt sehen konnte. Selbst heute noch; nach so vielen Jahren…

Elsbeth fühlte sich miserabel in ihrer Verkleidung: sie hatte das Gefühl, dass der ganze Park sie anstarrte, selbst die Engelstrompeten und der Oleander senkten ihre Blüten, wenn sie vorbei getrippelt kam und die Palmen fürchteten bestimmt von diesem Zirkusaffen neben Wladimir noch bestiegen zu werden. Etliche ältere Frauen auf den Parkbänken wandten sich richtiggehend ab. Kicherten die sogar oder bildete sie sich das nur ein?  Ja es stimmte, sie hatte den identischen braunen Wollrock von damals an, als Aljoscha sie ins Auto gezogen hatte; und auch die gleiche hemdartige blassblaue Bluse. Original DDR! Schlapprig und formlos; aber reichte das um sich derart lächerlich zu machen?

Auch die Schuhe waren original! Es war beileibe nicht einfach gewesen diese Dinger aufzutreiben; und damit auch noch rum rennen zu müssen war wirklich eine zusätzliche Strafverschärfung.  Mit der Frisur war das nicht so schwierig gewesen; da half ihre Naturwelle; wenngleich sie früher schon etwas längere Haare gehabt hatte. Aber sie wollte unter keinen Umständen auch noch eine Perücke tragen müssen. Nein – unter keinen gottverdammten Umständen! Und die Farbe passte ohnehin perfekt! Ungepflegt aber authentisch!

Das jugendliche Gesicht war erwartungsgemäß die größte Schwierigkeit gewesen. Echt eine Herausforderung für Katja, der geduldigen Visagistin! Aber Wladimir war unerbittlich, sie musste immer wieder von neuem ran. Er wusste ja wirklich wie Elsbeth ausgesehen hatte. Besser als sie selbst, die sich ja nur aus dem Spiegel kannte. Ihr Gesicht war nie wirklich schön gewesen, aber sehr frisch und lebhaft! Außerdem musste all das Strenge und Herbe aus der gegenwärtigen Visage weg retuschiert werden; die unzähligen Enttäuschungen aus den Falten rausgeschält, die Demütigungen glatt gepresst und die Schrammen der Vergewaltigungen weggestrichen werden; und stattdessen irgendeine Fröhlichkeit aus der Vergangenheit herbeigezaubert werden, in der sie noch nicht vom Klinikalltag auf ihre gegenwärtige Schäbigkeit reduziert worden war!

Katja wollte mehrfach kapitulieren und alles hinschmeißen!

Aber nach aufreibenden Wochen hatten sie es dann doch alle zusammen soweit geschafft, dass Wladimir eines Tages sagte: stopp – das könnte die 17jährige Elsbeth sein!

Ja – und deshalb ging nun dieses ‚Kunstprodukt einer DDR – Pomeranze’ im bemüht jugendlich, lässigem Schritt neben einem modisch gekleideten Russen, namens Wladimir, am frühen Vormittag durch diesen wunderbaren, blühenden Park in Richtung Hotel „La Russe“…

An der Steintreppe, mit dem „Silberprinzen“ angekommen, reduzierten sie das Tempo ihrer zuletzt ohnehin zögernden Schritte noch einmal; gingen dann aber in einer Entfernung von wenigen Metern an ihm vorbei, ohne eine Münze in den aufgestellten Pokal vor ihm zu werfen und direkt auf die beiden plaudernden und lachenden Männer gegenüber zu…

Und? –  an ihnen vorbei!

Ja – vorbei…

Beide vermieden jeden Blickkontakt mit Aljoscha und dem Professor.

Elsbeth hatte gespürt, wie bei jedem Schritt, dem sie sich Aljoscha näherte ihre Beine weg zu driften drohten, so dass sie, ohne es wirklich zu wollen, plötzlich einen Packen Papiertaschentücher aus der Handtasche kramte und schnäuzend ihr Gesicht verbarg als sie vorbeigingen: Aljoscha hätte sie somit auch nicht sehen können, selbst wenn er seinen Blick nur ein einziges Mal von dem großartigen „Silberprinzen“ abgewendet hätte.

Und nach wenigen Metern fing sie tatsächlich auch noch zu heulen an! Wer konnte das denn ahnen?

Schluchzend ließ sie sich von Wladimir zu einem gerade frei gewordenen Tisch steuern. Vermutlich glaubten die Leute am Nebentisch sogar er hätte sie geschlagen, was er ohnehin am liebsten getan hätte, so unsagbar zornig und enttäuscht war er.

Professor Anatoli T. aber tat als wäre nichts passiert! Was ja auch der Fall war. Plaudernd ging er mit Aljoscha auf die andere Straßenseite, um den Prinz aus nächster Nähe zu inspizieren, gab ein paar Münzen in den bereitstehenden Pokal und verschwand mit Aljoscha im Park. Elsbeth wusste, dass sie alles verbockt hatte. Dabei hatte sich diese ‚Gegenüberstellung’ so einfach angehört! So absolut einfach und klar, dass nach den Gesetzen der Logik gar nichts schiefgehen hätte können! Und dann dieses Desaster!

Wladimir versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Als Elsbeth ihr unter den Tränen in Auflösung begriffenes Gesicht kurz freigab und Wladimir bat, sie wegen ihrer Unfähigkeit zu ohrfeigen, sagte er, dass da wohl alle Beteiligten sich bei diesem Experiment zu sehr auf die Befindlichkeiten von Aljoscha konzentriert hätten und sie vollkommen vergessen worden wäre: wenn schon geohrfeigt werden müsste, dann hätten am ehesten er und der Professor ein paar hinter die Löffeln verdient, sagte er und legte tröstend seinen Arm um sie; wenngleich ihm das nur mit äußerster Anstrengung gelang.

Ein paar Gläser Prosecco brachten die erwartete Erleichterung und mit Hilfe der Utensilien ihres Schminkkoffers, den Wladimir als gewöhnlichen Handkoffer mitgetragen hatte, fanden auch Teile der weg geflossenen Jugendlichkeit wieder in ihr Gesichtes zurück; Elsbeth hatte eine Menge von Katja gelernt! Zumindest das war tröstlich…

Und dann das große Staunen beim nächsten planmäßigen Gespräch: Professor Anatoli T. war in keiner Weise verärgert, sondern meinte nach einer überraschend lockeren Begrüßung, dass das gar kein schlechter Anfang gewesen war!

„Sie wollen mir wohl Mut machen, Herr Professor, wie man das bei einem kleinen Kind macht?“

„Nein, das war vielversprechend! Wenn sie Ihr Gesicht nicht hinter Taschentüchern versteckt hätten, liebes Fräulein Elsbeth, hätten sie bemerkt, dass es Ihnen durchaus gelungen ist Aljoschas Blick auf sich zu ziehen! Er sagte sogar: sagen Sie mir bitte, ob ich träume oder diese junge Frau tatsächlich kenne…

„Wirklich, oder sagen Sie das nur um mich aufzumuntern? Wladimir was meinst du?“

„Ich muss gestehen ich hatte nicht gewagt Aljoscha anzuschauen. Ich hatte Angst vor seinen Blicken. Das war ein komisches Gefühl. Ich wollte von ihm nicht erkannt werden.“

„Seltsam…“

„Ich kam mir vor, als wäre ich zur ‚Identifizierung ausgestellt’ worden und Aljoscha stünde hinter der Glasscheibe und versuchte einen seiner Henker ausfindig zu machen und der gerechten Strafe zuzuführen“…

„Aber der kann Sie doch gar nicht mehr erkennen, Wladimir!“

„Ich weiß das ja, aber in dem Moment, als wir vorbeigingen und er so vor mir stand, nur wenig verändert, war diese Gewissheit weg und meine Knie fingen auch zu zittern an und ich schaute auf den Boden…“

„So schlimm?“

„Am liebsten hätte ich auch so geheult wie Elsbeth…“

„Eigenartig! Und wissen Sie Elsbeth, dass Aljoscha Ihnen sogar nachgeschaut hat? Dieser Gang stimme aber nicht, hatte er gesagt, so sei Elsbeth nicht geschritten, seine geliebte Elsbeth, die er nie vergessen werde…“

„Wirklich? Hat er das gesagt, dass er mich nie vergessen werde?“

„Ich schwöre alle heiligen Eide, dass er das gesagt hat, sagte Professor Anatoli T. „drum bin ich ja so zuversichtlich. Und das mit dem jugendlichen Gang bekommen wir auch noch hin, da bin ich mir ganz sicher, Elsbeth!“

„Gott, ist das spannend! Celine! Wladimir! Habt ihr das gehört, das ist doch der Wahnsinn! Und ich hatte geglaubt, dass ich alles verbockt hätte und dann das: Aljoscha hat mich erkannt. Und Aljoscha erinnert sich an mich…ich kann es nicht fassen…

Elsbeth war so überrascht von der Wendung des Gespräches, dass sie spontan erst Celine und dann Wladimir um den Hals fiel und überschwänglich für die große Geduld dankte, die man mit ihr bei der Visagistin gehabt hatte.

Sie merkte in ihrem Überschwang gar nicht, dass Wladimir immer steifer und steifer wurde und sie abzuwehren versuchte, da Professor Anatoli T. auf keinen Fall den Eindruck allzu großer Vertrautheit bekommen durfte. Das wäre der Sache nicht dienlich gewesen. Er war auch froh, dass der Professor meinte, dass Elsbeth sich jetzt entspannen sollte und Celine bat, sich um sie zu kümmern.

„Aber Elsbeth, glauben Sie ja nicht, dass wir schon am Ziel sind! Ganz im Gegenteil, jetzt beginnt erst die richtige Arbeit. An jeden Tag müssen wir weiter an der jugendlichen Elsbeth arbeiten, wirklich an jedem der noch verbleibenden Tage! Ist das klar?“ sagte er freundlich aber so bestimmt, dass auch Elsbeth das verstand.

„Jeden Tag müssen Sie mehrere Stunden für diese Arbeit zur Verfügung stehen, Elsbeth! Mehrere Stunden, hören Sie! Das ist keine Kleinigkeit und darf von Ihnen und uns nicht auf die leichte Schulter genommen werden; es muss alles stimmen bis ins kleinste  Detail!“

Elsbeth beteuerte in ihrem Glück, dass sie noch härter arbeiten werde als jemals zuvor, um allen seinen Wünschen gerecht zu werden. Jetzt wo sie von dem Erfolg höre mache das auch alles viel leichter; jetzt wisse sie, dass das nicht nur vergebliche Liebesmühe sei. Das sei ein unheimlicher Motivationsschub, für den sie sich noch einmal ausdrücklich bedanken wolle, sagte sie. Und sie sei auch ganz, ganz sicher, dass sie bei der nächsten Begegnung mit Aljoscha ihre Gefühle voll unter Kontrolle haben werde; so etwas wie vor zwei Tagen werde mit Sicherheit nicht mehr passieren.

„Da können sie sich voll auf mich verlassen, Herr Professor“, sagte sie mit einem Leuchten in den Augen, dass auch der Professor noch nicht kannte, ihn aber ahnen ließ, wie viel Jugendlichkeit in dieser Mittvierzigerin doch noch steckte…

„Das ist schön zu hören liebes Fräulein Elsbeth, aber ich plädiere trotzdem dafür, dass Celine Sie jetzt auf ihr Zimmer bringt und ich noch ein paar Takte mit Wladimir zum weiteren Programmablauf spreche…“

Über das ganze Gesicht lachend hielt er den beiden Damen sogar noch die Tür des Besprechungszimmers auf.

„Und nun Klartext, Wladimir!“ Das freundliche ‚Sie’ war plötzlich weg!

„Das war nichts! Gar nichts!  Weniger als nichts…“

„Aber ich dachte…“

„Das war die totale Scheiße, was da abgegangen ist – entschuldige, wenn ich so ausfallend werde…“

„Aber Sie sagten…“

„Vergiss mein Geschwätz von vorhin …“

„Also hatte Elsbeth mit ihrer ersten Einschätzung doch recht gehabt?“

„Ich weiß nicht ob dir wirklich klar ist, dass es hier nicht um die ‚Fliegenscheiße Elsbeth’ geht, sondern um ganz andere Sachen, vor allem um viel, viel Geld!

„Fliegenscheiße?“

„Nur, wenn wir ‚W.S.’ Wünschen gerecht werden, hat die Klinik, hast du und hat Elsbeth eine Überlebenschance. Begreife das endlich! Das ist eure Chance und zwar eure einzige Chance! Verstehst du das…“

„Das ist schon klar, aber Sie…“

„Da darf einfach nichts mehr schiefgehen! Ich muss mich auf euch verlassen können, Wladimir – alles andere wäre eine Katastrophe und für uns alle nicht gesund.“

„Ich verstehe, aber gab es denn für uns wirklich eine echte Chance? Glauben Sie wirklich, dass Aljoscha sie erkennen könnte…?“

„Ja, ja und hundert Mal ja! Ich glaube es nicht nur, sondern ich weiß es sogar, lieber Wladimir!“

„Sie wissen es sogar…?“

„Ja, denn die Reaktion Aljoschas, die ich Elsbeth geschildert habe war nicht erfunden, sondern hat wirklich stattgefunden…

Aber leider am anderen Ende des Parks, wo kein „silberner Prinz“ mehr stand…“

„Sondern…“

„Wie aus dem Nichts – Dr. Hugo L. mit einem jungen Mädchen uns entgegenkam. Sie mag 17 Jahre oder jünger sein…“

„Hugo? Wie denn das?“

„Er lachte und schäkerte mit dem Mädchen – und tat so als wären wir Luft…“

„Oh Gott…“

„Aber für Aljoscha war das Mädchen alles andere als Luft! Der blieb stehen wurde kreidebleich und fing an am ganzen Körper vor Erregung zu beben…Und stammelte mehrmals hintereinander ‚Elsbeth’…Schaute dann mich an und war drauf und dran auf die beiden zuzugehen…“

„ Und…?“

„Das schäbige Grinsen von Dr. Hugo L. kannst du dir vielleicht vorstellen…“

„Leider ja…“

„Und dann waren sie auch schon vorbei!

„Und…?“

„Und ich erlöst! Denn von hinten gab es keine Elsbeth mehr!

Die Figur, der Gang, ihre Bewegungen… nichts passte mehr zu ihrem Gesicht!“

Auch Aljoscha schüttelte verärgert und verunsichert den Kopf und sagte, dass da wohl der plastische Chirurg Dr. Hugo L. zugeschlagen hätte…

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