Warum mich…? (Kapitel 6)

Zur Abwechslung hier einmal ein ‚Thriller‘! Mit etwas Glück kommt jetzt jeden Sonntag ein Kapitel. Vielleicht haben einige die Nerven und halten bis zu  Kapitel 19  durch? 

Das Bild ‚ Ahorn und Seide‘ ist übrigens von Martina Roth.

 

Kapitel 6

2000 – Die Nacht

Oh Gott – dieser grässlich trockene Mund! Und der Kopf – zum Wegwerfen! Warum war er nur aufgewacht und nicht gleich gestorben? Und alles finster! Kant versuchte sich krampfhaft zu konzentrieren: Wo war er nur?

Ein nahes schnarchendes Geräusch ließ ihn kurz hochfahren – und gleich wieder zurücksinken. Vorsichtig tastete er nach dem Lichtschalter. Das Licht tat weh!

Karin S. drehte sich weg; sie war nicht aufgewacht. Sie hatte die weiße Bettdecke fest zwischen den Beinen eingeklemmt und zeigte ihren nackten Rücken. Schmal und zerbrechlich.

Ihr winziges Höschen hatte sie schon wieder an. Wann hatte sie das angezogen?

Johannes litt an der Trockenheit im Mund noch mehr als unter den starken Kopfschmerzen. Hoffentlich gab es in der Minibar noch Fruchtsaft oder Limo. Egal was, nur süß oder sauer musste es sein. Und kalt und reichlich! Manchmal ging auch der Kopfschmerz weg, wenn er nur etwas Süßes trinken konnte….

Vorsichtig schob er seinen ausgeleierten, kalten Körper an das Fußende des Bettes in Richtung Minibar. Karin musste wirklich nicht auch noch aufwachen.

Entsetzlich – das Bett knarrte schon wieder; wie gestern Abend. Zuletzt hatten sie sich nur noch auf den Bettdecken am Fußboden herumgewälzt. Trotzdem hatte jemand gegen die Wand gepocht. Und wie!

War auch alles viel zu laut gewesen, sowohl er als auch Karin.

Und als sie eng umschlungen weggedriftet waren, hatte vermutlich dieser „Jemand“ ganz vorsichtig die Türklinke nach unten gedrückt: Gott sei Dank ging die Tür nicht auf…

Karin hatte nichts gemerkt. Vollkommen ermattet war sie an seiner Schulter eingeschlummert…

Nach der erlösenden Limo musste Johannes noch einmal eingeschlafen sein, denn Karin war schon weg, als er am späten Vormittag endlich zum zweiten Mal aufgewacht war.

Ihr Geruch hing noch überall! Seine Finger, sein Gesicht, seine Haare alles roch nach ihr. Und das Bild, gut verpackt und verschnürt stand auch noch auf dem Tisch.

Karin hatte Elsbeths Bild aus der Galerie mitgebracht, die er bei seinem jetzigen Berlinaufenthalt endlich wiedergefunden hatte, obwohl sie total renoviert und nicht mehr zu erkennen gewesen war. Bei den drei vorgehenden Versuchen war ihm das nicht gelungen.

Als Karin dann spätabends, vollkommen überraschend, mit dem Bild untern Arm bei ihm im Hotel aufgekreuzt war, waren sie gar nicht mehr dazugekommen dieses ‚Ahorn und Seide’ – Bild auszupacken und anzuschauen, denn plötzlich lief alles ganz anders mit einer eigenen Dynamik wie im Film ab. Aber abgesehen von der kleinen unangenehmen Unterbrechung nach dem Abendessen, hatte sich das ja schon in der Galerie abgezeichnet und im „Wladimir“ fortgesetzt….

Sowohl die schöne schwarze Dame, als auch er hatten dieses Mal auf jede Geheimnistuerei verzichtet und sich gleich so begrüßt, wie das üblich ist, wenn man sich von Kind auf kennt – und dann nie mehr gesehen hat. Nach kurzer Verlegenheit und einem aufschimmernden Rot an den Wangen lagen sie sich schnell freundschaftlich in den Armen und stellten wechselweise fest wie prächtig sie aussahen. Die kleine zierliche Karin konnte sich gar nicht einkriegen, was für ein mords Mannsbild, dieser ehemals so schmächtige Bub Johannes geworden war.

Ja und dann hatte Karin die Galerie, in der sie sich immer noch gelegentlich aufhielt, einfach zugesperrt, was ihr als Chefin jederzeit zustünde, wie sie lächelnd meinte und Johannes in ein nahes, aber sehr verstecktes, kleines russisches Restaurante im ersten Stock geschleppt, dass er, wie die Galerie, bestimmt auch nie wieder finden würde.

Obwohl ein in russische Tracht gekleideter strubbeliger Boris, Karin und Johannes überschwänglich begrüßte, nahmen die übrigen Gäste sie kaum zur Kenntnis. Jeder schien mit sich beschäftigt. Ein Gesicht – aber ohne jede Reaktion –  glaubte Johannes sogar zu erkennen. Carlos? Egal!

Boris führte die beiden zu einem abseits stehenden Tisch in einer gemütlichen Nische: ein besonderes Plätzchen für Lieblingsgäste, meinte er mit einem vergnügten Zwinkern.

Nach einem wunderschönen prickelndem Krimsekt, reichlich Oliven und winzigen, knusprigen Knoblauchbrötchen, empfahl der wohl immer gutgelaunte Boris auf Wunsch von Karin, die hier zu Hause zu sein schien, mit einer Sup–Hartscho zu beginnen, einer pikanten Rindersuppe mit Tomaten, nach einem alten grusinischen Rezept.

Dann sollten sie unbedingt das heute empfohlene Kalbsroulet mit Steinpilzsauce und Kartoffelpüree probieren, unbedingt, das sei ganz superb, sagte Boris mit spitzen Lippen, die vor den zahlreichen goldenen Zähnen eine ungeheure Fleischlichkeit und Genussfreude ausstrahlten.

Als Wein würde er einen schönen samtigen georgischen Rotwein empfehlen, nicht zu schwer für Mittag und sehr fruchtig. Oder es gäbe da auch einen recht süffigen frischen Weißwein aus Georgien dazu, den ‚Tsinandali’, sagte Boris und stellte auf Karins Frage bedauernd fest, dass der Chef des Hauses heute leider nicht da sei …

Abschließen könnten sie das Ganze mit den einmaligen Moosbeeren in Zucker und Weinbrand, die Karin ja so gerne esse, oder aber mit einer sehr, sehr schönen Vareniki mit Sauerkirschen oder Waldbeeren, je nach dem, was ihre Begleitung wünsche, flüsterte Boris vertraulich und zeigte in bester Stimmung jetzt alle seine prächtigen Goldzähne.

Da Johannes ein weiteres Mal zustimmend nickte und grinsend zu Karin sagte „ ganz wie du meinst liebe Mama“,  wurde er von ihr  kräftig in die Seiten geboxt, als Lausbub beschimpft und zur Strafe zu zwei weiteren Gläsern Krimsekt verdonnert, die er gerne trank, auch ex wie es gewünscht wurde, da er spürte, wie mit jedem Glas der doch beträchtliche Altersunterschied, den er gar nicht mehr so im Kopf gehabt hatte, sich mehr und mehr verflüchtigte und er zunehmend  dreister auf Karins Flirtspielchen eingehen konnte, die aber auch dem munteren Boris mit den fleischigen Lippen recht unverfroren zuprostete, da er, wie sie schmunzelnd feststellte, ein ganz toller Freund sei, auf den sie sich super verlassen könnte.

Und auf den Chef des Hauses, nach dem das Lokal ja benannt sei, natürlich auch…

„Was – nach Wladimir ist es benannt?“, fragte Johannes erstaunt.

„Ja, Wladimir gehört das Lokal und noch etliche andere Lokale dieser Art auch! Der hat sich mit seiner russischen Küche erstaunlich gut etabliert“

„Ist das ‚der Wladimir’?“

„Ja, das ist ‚der Wladimir’ in den ich früher vielleicht so etwas wie verliebt war…“

„Und wenn du Kummer hast, dann hilft dir ‚dieser Wladimir’ von früher auch heute noch“

„Ja aber nicht immer“, sagte sie zögernd, „denn da gibt es schon seit ein paar Jahren Reibereien mit meinem Partner Dr. Hugo L., aus der Charité, den Wladimir nicht mag, da er meint, dass er mir nicht gut täte und ihm auch nicht gut getan habe“!

„Heißt das, dass du so typisch zwischen zwei Freunden stehst, die dir beide ganz uneigennützig Gutes tun wollen und du dich jedes Mal entscheiden musst welches Gute besser für dich ist?“

„So könnte man es sagen, ich staune wie schnell du das herausgefunden hast“, kicherte Karin und flüsterte ihm plötzlich die Frage ins Ohr, ob er ihr nicht auch Gutes tun möchte?

Da er überrascht guckte, meinte sie schmunzelnd, er solle sich keine Sorgen machen, das sei ein Scherz gewesen.

Erstaunlich offen erzählte sie nach dem wirklich köstlichen Kalbsroulet, dass sie Hugo auch hinsichtlich ihres Aussehens viel verdanke und deutete mit gespielter Verlegenheit auf ein paar Stellen in ihrem rafaelschen Madonnengesicht, die er ganz speziell und mit großer Kunstfertigkeit an ihr bearbeitet hatte, sehr zum Leidwesen von Wladimir, der diese Schönheitsoperationen hasste…

„Darum – habe ich dich damals auch nicht wiedererkannt“, meinte Johannes spöttisch, „da hattest du noch deine angewelkte realsozialistische Gesichtslarve, umhängen, oder?“

Lachend hob er sein Rotweinglas und prostete Karin zu, die ihn schmunzelnd einen Spötter nannte.

„Aber im Ernst, ich hatte dich damals wirklich sofort wiedererkannt“, sagte Johannes einlenkend, „wenn gleich ich mir vielleicht nicht hundertprozentig sicher war“.

„Und du, hast du mich erkannt “? fragte er.

„Nein, da du so wahnsinnig groß geworden bist. Wahrscheinlich hab’ ich gar nicht richtig bis nach oben geguckt damals.“

„Und Elsbeth, hat die mich erkannt?“ fragte Johannes plötzlich und verursachte dadurch nicht nur eine drastische Veränderung in Karins Gesicht, sondern auch eine ziemlich lange Gesprächspause, die selbst Boris zu bemerken schien, da er plötzlich wie aus dem Nichts mit zwei Portionen gezuckerten Moosbeeren dastand und lachend die Situation zu retten versuchte.

„Elsbeth – Elsbeth …?“ sagte Karin mehrmals in unterschiedlicher Lautstärke, während sie ihre beiden Schläfen gedankenverloren massierte und sich zu erinnern versuchte.

„Wie kommst du denn auf Elsbeth?“, fragte sie zögernd.

„Na ja als ich damals zu meinem Auto zurückging hatte ich das Gefühl, dass mich jemand beobachtet, hab’ mich aber aus einer gewissen Gekränktheit heraus nicht umgedreht, was mir Monate lang nachhing“!

„Vielleicht hab´ ich dir nachgeschaut?“, meinte Karin flapsig.

„Kann sein, aber ich hatte das Gefühl, dass es wer anderer war.“

„War das vielleicht die Stimme des Blutes, die du da plötzlich gehört hattest?“

„Möglich “, sagte Johannes mit angestrengter Leichtigkeit.

„Außerdem sagte mir mein Ingenieurverstand und ein gewisser Carlos, dass die Malerin dort ist, wo ihr Bild ist?“

„Seltsame Logik, wie passt denn das bei Picasso, wo ist der?“

„Ha-ha sehr witzig!“

„Was heißt hier witzig, frag doch Carlos bei welchem seiner Bilder Picasso ist?“

„An deiner Reaktion merke ich, dass ich in ein Wespennest gestochen habe!“

„Pass nur auf, dass du nicht auch gleich ganz bös gestochen wirst, lieber Johannes. Manchmal passiert so etwas schneller als man denkt“, sagte Karin und schien plötzlich Boris zu suchen.

„Elsbeth, ist sehr krank!“, sagte sie dann mit einem Gesicht, dem alle Heiterkeit abhandengekommen war, so dass Johannes seine spontane Frage nach Elsbeth schon bedauerte und ein schlechtes Gewissen verspürte, worüber er sich auch wieder ärgerte.

„Elsbeth ist wirklich krank, Karin? Was hat sie denn?“  fragte er zweifelnd nach.

„Ja, sie ist sogar sehr krank, Johannes, und das ist kein Scherz, denn mit so etwas scherze ich nicht, trotz des vielen Alkohols, den wir beide schon intus haben. Und ich sage dir das auch ganz vertraulich – vertraulich als eine ihrer behandelnden Ärztinnen!“

„Was du bist Ärztin“?

„Ja ich habe in Moskau Medizin studiert, Neurologie, wenn dir das etwas sagt!“

„Da staune ich aber.“

„Ich dachte das wüsstest du? Ist eigentlich schwach, oder funktionieren bei eurer Organisation die Informationskanäle nicht so richtig?“

„Ja, wenn du das so sagst und mir dadurch zu verstehen gibst, dass du über mich besser Bescheid weißt, als ich über dich, dann hast du wahrscheinlich recht!“

„Dein Carlos sollte dich lieber über die wichtigen Dinge informieren und nicht hinter Elsbeth herschnüffeln! Das tun genug andere!“

„Vielleicht hast du Recht! Aber das Eine schließt ja das andere nicht aus, oder?“

„Das nicht, aber man sollte seine Nase nicht in zu viele Dinge stecken, sonst steht man plötzlich ohne dieselbe da!“

„Ganz schön brutal!“

„Na ja so wird man halt durch die Dinge des Lebens!“

„Und wie geht es Elsbeth nun wirklich Karin, ohne dass wir wissen wo sie ist?“

„Elsbeth geht es – dort wo sie ist – angemessen gut, ja – eigentlich sogar mehr als gut, das kann ich wohl sagen!“, sagte Karin langsam und nachdenklich „du musst dir wirklich keine Sorgen um sie machen“!

„Und – kann ich sie besuchen?“

„Nein das kannst du nicht, da wir ja nicht wissen wo sie ist, auch wenn du noch so treuherzig guckst – es wär nicht gut für sie und nicht gut für dich glaub mir, ich weiß das besser als irgendjemand anderer“, sagte sie und gab ihm plötzlich über den Tisch hinweg einen langen Kuss auf seinen Mund.

Erstaunlich weich und warm… Johannes spürte wie sein Körper sich verselbstständigte und fortzuschweben drohte.

„Und frag nicht soviel“, flüsterte sie, „sonst verdirbst du mir noch die schöne Stimmung in der ich bin – und deiner Organisation und meinem Netzwerk  auch.“

„Du meinst: küssen ja – plaudern nein“, flüsterte Johannes

„Ja das meine ich – noch dazu, wenn deine Küsse so traumhaft nach dem Weinbrand der Moosbeeren schmecken“.

„Und deine nach dir“, stotterte Johannes überrumpelt.

Karin ging darauf nicht ein, sondern schaute zu ihrem Boris, als erwarte sie ein Zeichen.

„Immerhin ist es schön“, sagte sie nach einem kräftigen Schluck Wein, „dass wir über deine Medizintechnik uns auch medizinisch nahe sind. Vielleicht können wir ja einmal etwas gemeinsam machen, wäre doch toll, meinst du nicht auch?“

Johannes nickte geistesabwesend und entschuldigte sich kurz. Als er von der Toilette zurückkam, war  Karin wieder ganz die unnahbare schöne schwarze Dame und sagte, dass sie einen Anruf von Hugo bekommen habe und dringend in die Klinik müsse, er solle ihr bitte, bitte nicht böse sein.

Aber umarmen möchte sie ihn schon bevor sie gehe, sagte sie gekünstelt zu dem vollkommen konsternierten Johannes.

„Und was ist mit meinem Bild?“

„Das lass ich dir ins Hotel bringen“, rief sie ihm in sichtlicher Eile zu und verschwand. Johannes setzte sich langsam hin und hatte plötzlich das Gefühl, dass einige Leute im „Wladimir“, ihn nun doch zur Kenntnis nahmen.

Warum auf einmal diese Aufmerksamkeit?

Der ewig lachende Boris versuchte Johannes mit einem eisgekühlten Wodka in die Realität zurückzubringen.

Er meinte, so sei diese Frau Dr. Karin S. eben – immer in Eile und voller Überraschungen! Auf Johannes’ Bitte hin, bestellte er ein Taxi.  Um die Rechnung müsse er sich nicht kümmern, sagte Boris fürsorglich, sondern nur gut und wohlbehalten in seinem Hotel ankommen!

Und knapp vor Mitternacht war dann Karin tatsächlich mit Elsbeths Bild vor seiner Zimmertür aufgetaucht. Ihr leises Klopfen hätte er beinahe überhört…

Aber jetzt wollte er doch schauen ob es trotz fortgeschrittener Zeit noch so etwas wie ein Frühstück in diesem Hotel gab, denn das Verkaufsgespräch am Nachmittag mit den Leuten von der Charité würde bestimmt nicht einfach werden.

Einen kurzen Blick auf „Ahorn und Seide“ wollte er sich trotzdem noch gönnen. Endlich konnte er Onkel Paul das lange versprochene und oft angekündigte Bild von Elsbeth tatsächlich mitbringen…

Und dann das!

Johannes sank schwer atmend auf das zerwühlte Bett.

Schwarz gerahmt sah er riesig groß seinen eigenen Kopf, eingeklemmt zwischen Karins nackten Schenkeln…

Und auf dem angehefteten karierten Blatt Papier stand mit Filzstift in großen Buchstaben,

dass sich der geile Onkel Paul über dieses Bild bestimmt viel mehr freuen werde – und dein Susannchen sicher auch…

Küsschen, Karin!

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