Zur Abwechslung hier einmal ein ‚Thriller‘! Mit etwas Glück kommt jetzt jeden Sonntag ein Kapitel. Vielleicht haben einige die Nerven und halten bis zu Kapitel 19 durch?
Das Bild ‚ Ahorn und Seide‘ ist übrigens von Martina Roth.
Kapitel 8
2002 – Das Messer
Elsbeth erwachte, sie lag nackt auf der Straße.
Als sie ihr zerschundenes Gesicht endlich vom blutverschmierten Asphalt abheben konnte, stierten ihre leeren Augen auf eine Ameise, die emsig zwischen ausgefransten Hautfetzen eines armähnlichen Stück Fleisches hin und her lief, neugierig ihren Kopf streckte, als nähme sie Witterung auf, um in der nächsten Sekunde hastig die reichlich dargebotene Blutspeise zu prüfen. Irgendwann verschwand sie zwischen zuckenden Fingern, die sie zerquetschten…
Elsbeth drehte ihr Gesicht unter starken Schmerzen noch etwas mehr von der Asphaltdecke weg, hob den Kopf ein winziges Stück höher und erkannte schließlich im Dämmerlicht des Morgens gegenüber, wenn auch sehr verschwommen, das Ende der nassen Asphaltdecke. Und zu beiden Seiten die Fortsetzung einer Straße, die sie vernichtet hatte.
Dann endlich wieder ein Regenschwall.
Zaghaft und noch unentschlossen fühlte sie neues Leben in sich hochkriechen, als sie das Klatschen des Regens auf ihrer Haut spürte und jeden dieser Einschläge auf Armen, Beinen, Rücken und Kopf wie eine Liebkosung empfand. Ihr weggeworfener Körper war zurückgekehrt und schien seine Funktion wieder aufgenommen zu haben. Einzelne Teile des malträtierten Fleisches ließen sich sogar wieder bewegen. Sie hörte, sah, spürte und schmeckte wieder und konnte auch wieder weinen. Instinktiv kroch sie näher an den Straßenrand, rollte sich mit einer letzten Anstrengung auf den Rücken und genoss auch auf ihren abgeschürften Brüsten und zerkratztem Bauch die reinigende Frische dieses Regens. Der wolkenbruchartige Regenschwall schwemmte alles Schmutzige weg, kam aber gegen ihre Scham nicht an. Und gegen die Angst auch nicht.
Konnte Hugo zurückkommen?
Hatte er ihre neuerliche Attacke auch überlebt?
Sie wusste selbst nicht mehr, woher sie diese Kraft und Entschlossenheit genommen hatte, als sie ihm plötzlich während der Fahrt sein eigenes Messer, das er mit einem herausfordernden Grinsen vor ihr unter die Windschutzscheibe platziert hatte, in die Seite gerammt hatte.
Erschrocken über seinen unmenschlichen Schrei, hatte sie sich völlig von Sinnen in die Regennacht hinausgestürzt und war nach einem dumpfen Aufprall wie verlorenes Ladegut über den nassen Asphalt geschlittert. Und endlich irgendwo liegen geblieben.
Aber was war mit Hugo? War er verletzt ins Meer gerast?
Oder hatte er nach der Kurve da vorne angehalten, um wieder zurückzukommen?
Bei diesem Regen sicher nicht!
Die Strasse war ein reißender Bach geworden. Mit großer Beharrlichkeit hob sich Elsbeth aus dem dahinschießenden Wasser ab, torkelte den Straßenrand entlang, und wurde mit jedem Schritt sicherer und zuversichtlicher. Sie schloss die Augen und wollte schreien, tat es aber nicht. Vielleicht war Hugo trotz seiner Verletzung doch noch in der Nähe? Seine lauernde Gegenwart ließ sich nicht abschütteln…
Dann dieses Auto, das sich von oben langsam durch den Regen quälte. Elsbeth stand nackt im Scheinwerferlicht. Hilflos versuchte sie mit den Händen ihre Blößen zu bedecken. Weglaufen ging nicht. Der Schock lähmte sie. Das Auto zwängte sich vorsichtig vorbei und hielt knapp hinter ihr an. Eine Frau stieg aus. Kannte sie diese Frau?
Der Regen schien ihr nichts auszumachen. Sie rief Elsbeth etwas zu, doch die verstand kein Französisch mehr. Das war seit Jahren blockiert. Aber „Broken English“ ging noch.
Elsbeth stakste zögernd ihrer vermeintlichen Retterin entgegen. Die Frau, mittleren Alters, musterte sie kurz, holte eine Decke aus dem Kofferraum, wickelte diese sorgfältig um Elsbeth und bat sie in ihr Auto zu steigen. Das war beschwerlich, aber die Frau half mit großer Umsicht.
Gott sei Dank war sie alleine. Sie fragte nichts. Sie half. Vorsichtig schnallte sie das eingepackte Bündel Mensch an und fuhr langsam die Küstenstrasse nach unten.
Die Straße war kurvig. Elsbeth konnte sich nur mit größter Anstrengung aufrecht halten. Sie war noch immer wie betäubt.
Bei jeder Kurve hoffte sie auf ein durchbrochenes Geländer, wo Hugo in den Abgrund gerast war. Aber da war nichts.
Die Frau am Steuer fuhr konzentriert und redete leise vor sich hin. Einmal fragte Elsbeth „Where do we go? “
Die Frau zögerte und sagte „trust me“.
Der Weg nahm kein Ende. Die Wärme in der Decke tat gut. Elsbeth fürchtete wegzugleiten und einzuschlafen.
Trotz des Regens wirkte jetzt alles friedlich. Auch das Meer, das man weit draußen sah. Das passte nicht zusammen: wo war die Hölle geblieben?
Eine Ortschaft tauchte auf.
Nach mehrmaligem Abbiegen hielt die Frau vor einem Haus, nickte Elsbeth freundlich zu und fuhr dann in einen Hof.
Ihr Handy läutete. Sie sagte „please wait“, stieg aus und nahm das Gespräch an. Sie telefonierte eine ganze Weile und schien sehr erregt. Verärgert rannte sie ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Nach ein paar ewiglangen Minuten kam sie mit einer Wasserflasche und einem weißen Bademantel zurück.
Sie lächelt, aller Ärger schien verflogen.
Elsbeth verstand. Mühsam kroch sie aus dem Auto und in den Bademantel. Die Frau hielt die Decke als Sichtschutz.
Elsbeth konnte die Wasserflasche nicht halten. Die Frau half ihr mit der Wasserflasche. Wegen des geschwollenen Gesichtes und der offenen Lippen konnte sie kaum trinken. Jeder Tropfen war eine Qual. Trotzdem war das Wasser gut. Vielleicht etwas bitter!
Elsbeth nickte dankbar und versuchte sich krampfhaft zu erinnern woher sie die Frau kannte.
„Now we go to another place“, sagte die Frau lächelnd und fügte noch hinzu, dass sie Celine heiße und Elsbeth sie doch kennen müsste. Aber Elsbeth bekam das schon nicht mehr mit. Sie war schlagartig weggedämmert.
Die Aufnahme in der Klinik ging reibungslos. Celine, der rettende Engel, hatte alles im Griff. Bald lag Elsbeth in einem blütenweißen Bett, ohne das noch mitbekommen zu haben.
Schreiend fuhr sie hoch.
Eine junge Krankenschwester versuchte sie zu beruhigen. Sie sprach gut Deutsch und war wohl schon die ganze Zeit bei ihr gesessen. Sie sagte, man habe sie gebeten Bescheid zu sagen, wenn Elsbeth aufwachte, dann würde der zuständige Arzt sie untersuchen und sie, Geraldine, würde, wenn notwendig dolmetschen. Aber der Arzt spreche sehr gut Deutsch, da er in Berlin an der Charité gearbeitet habe.
Elsbeth erstarrte. Geraldine merkte die Veränderung und fragte, ob ihr nicht gut sei. Elsbeth zog wie besessen an ihrer Bettdecke und versuchte sich immer wieder am Bügel ihres Krankenbettes hochzuziehen.
Sie würgte und sagte sie möchte zur Polizei, eine Aussage machen.
„Das sei ohnehin vorgesehen“, sagte Geraldine aber erst müsste ihr Gesundheitszustand überprüft werden
„Nein, nein“, kreischte Elsbeth hysterisch, „erst die Polizei, bitte Geraldine, ich flehe sie an, erst die Polizei…“
„Keine Polizei“, sagte eine Männerstimme, als die Tür des Krankenzimmers aufging.
Es war Hugo – Dr. Hugo L. Dahinter Celine mit zwei Krankenpflegerinnen.Elsbeth geriet in Panik.
Jetzt wusste sie, woher sie diese Frau gekannt hatte.
Zu spät, sie saß in der Falle. In ihrer Hilflosigkeit wollte sie sich lieber selbst vernichten bevor andere das taten. Sie riss ihr Nachthemd von den Schultern und stürzte sich aus dem Bett. Aber Dr. Hugo L. war schneller. Geschickt fing er sie auf und legte sie trotz heftiger Gegenwehr mithilfe der beiden Krankenpflegerinnen fürsorglich zurück ins Bett.
Dabei war ihm das Messer aus seinem Arztkittel gefallen.
Ein Trickmesser, beim Zustechen schob sich die Klinge in den Griff.
Dr. Hugo L. ließ die Klinge des Messers mehrfach aus dem Griff schnellen, bevor er es endgültig in seine Kitteltasche zurücksteckte. Mit einem schäbigen Grinsen sagte er, „immer funktioniert deine manisch aggressive Stecherei auch nicht, liebe Elsbeth! Das erste Mal war schlimm genug, aber glaub mir am Schlimmsten für dich, dafür werde ich sorgen…“
Elsbeth schämte sich; sie hatte wieder versagt. Warum gelang diesem Scheusal immer wieder, über sie zu triumphieren? Aber als er sie in ihrem Versteck aufgespürt hatte und sie verzweifelt einsehen hatte müssen, dass ihr Ausbruchsversuch auch dieses Mal fehlgeschlagen war, da irgendwer sie doch wieder verraten haben musste, hatte er ein anderes Messer dabei gehabt, da war sie sich ganz sicher. Mit diesem anderen Messer hatte er sie brutal gezwungen sich nackt auszuziehen. Nackt könne sie ihm nicht weglaufen, hatte er gesagt, an ihr herumgefingert und sie wie ein Stück Vieh in sein Auto gestoßen…
Elsbeth beruhigte sich endlich!
Vielleicht wirkte auch der Medikamenten-Cocktail schon, den man ihr wie üblich gespritzt hatte. Sie starrte enttäuscht auf Celine und fixierte Hugo. Ihr zerschundenes Gesicht versuchte ein schiefes Lächeln, als ahnte sie, dass auch er längst in der Hölle angekommen war…