Er ist nicht das Lieblingsbild von uns selbst.
So wie wir uns gerne sehen würden.
Selbstbewusst, humorvoll, tolerant, spontan.
Nein, er ist fleißig, beharrlich, korrekt.
So, wie wir uns eben Buchhalter wünschen.
Unser moralisches Urteil bedient sich der Charaktereigenschaften des Buchhalters. Gleicht Worte und Taten anderer mit unseren Werten ab und ordnet Konsequenzen zu. Dabei bringen wir wie in einem Soll- und Haben-Konto Vorkommnisse zum Ausgleich, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben. In dem Buch „Christie Malrys doppelte Buchführung“ stellt der Autor die Frage, wie man eigentlich mit all den Gemeinheiten umgeht, die einem andere täglich antun.
Eine Frage, die uns alle berührt. Er kommt auf die Idee, eine Lebensbuchführung in Form einer doppelten Buchhaltung anzulegen. Unter Soll (Debit) und Haben (Credit) notiert sich die Hauptfigur Christie Malrys alles, was ihr so widerfährt. Die Kränkungen sind debits (Soll) und müssen ausgeglichen werden durch entsprechende credits (Haben), (für sie) angenehme Erfahrungen. So überlegt sich Malrys, einem Nachbarn, der ihm den Gruß verweigert, es diesem durch einen Kratzer im Lack seines Autos zu vergelten. Ein Wohnhaus, das ihm im Weg steht, bekommt einen fetten Strich auf die Fassade.
Übertrieben? Klar. Reine Fiktion? Nein. Unsere doppelte Buchführung möchte Gerechtigkeit und scheut dabei vor keiner Kleinlichkeit und Peinlichkeit zurück. Unsere Werte, die wir unserem Gerechtigkeitsempfinden unterlegen, sind ja nicht wie Euro oder Dollar im offiziell festgelegten Kurs zu berechnen oder zu tauschen, sondern ausschließlich in unserem, persönlichen Verrechnungsmodus. Die korrekte Verrechnung der Konten liegt in unseren Augen oder vielleicht noch, in dem unserer Bezugsgruppe.
Was ist der richtige, passende, gerechte „credit“ für einen Islamisten, der seinen Gott verhöhnt sieht? Was für uns der Stinkefinger des griechischen Außenministers bei Günter Jauch? Öffentliche „Hinrichtung“ per TV? Höhere Zinsen für Kredite? Aufruf zum Boykott des nächsten Griechenland-Urlaubs? Ohnehin überwiegen im richtigen Leben die Kränkungen, die „debits“, und eine Bilanz, die für uns ständig in den Miesen steht, führt uns stark in Versuchung, beim Ausgleichsversuch immer erfinderischer zu werden. Gehässiger und für die anderen ungerechter. Wer ständig denkt, „offene Rechnungen“ begleichen zu müssen, wird auf der Suche nach den geeigneten Maßnahmen viel Leben verpassen.
Wo die moralische Buchhaltung besonders konservativ ist, sieht sie die Konten nicht ausgeglichen. In ihrer ausgleichenden Gerechtigkeit fordert sie auch einen härteren Strafvollzug. Weicher oder laxer Strafvollzug entwerte bestimmte Handlungen. Ihre Vertreter sind der Meinung, dass üble Taten nicht teuer genug bezahlt werden. Kritiker der konservativen moralischen Buchhaltung sehen in diesen Strategien jedoch eher eine Aufwertung der Straftat zu einem knappen Gut. Nicht jeder soll sie sich leisten können.
Es herrscht Uneinigkeit in der Frage, wie die Wiedergutmachung als ein Ausgleich zwischen Gut und Böse stattzufinden habe. Einig sind sich jedoch alle in der Forderung nach der Wiedergutmachung. Entweder durch Rache oder durch Gnade, aber Gerechtigkeit muss sein. Rückzahlen oder Heimzahlen muss man es jemandem, wenn er sein Konto überzogen hat.
Während wir in der Finanzbuchhaltung Strategien kennen, die doppelte Buchführung einzudämmen, schießt in der moralischen Buchhaltung die Doppelmoral ins Kraut. Ein Moralist wird es weit von sich weisen, dass er berechnend vorgeht. Das würde seine moralische Position schwächen. Er möchte sich noch nicht einmal darauf einlassen, dass menschliches Handeln und moralische Werte messbar seien.
Und statt die Kriterien seiner Messungen und Vergeltungsakte offenzulegen, leugnet er schlichtweg diese Strategie. Hinter dem moralischen Urteil steht ein Denkmuster, das ein bestimmtes Kalkül der Verrechnung von Gut und Böse transportiert, das aber zugleich dieses Hintergrundmuster verschleiert. Moralische Buchhaltung verdunkelt, dass sie eine Buchhaltung ist.
Was Menschen stattdessen behaupten, hat George Lakoff in seinem entlarvenden Buch „Auf leisen Sohlen ins Gehirn“ so ausgeführt: „Mein Denken ist mir komplett bewusst. Es obliegt allein meiner Entscheidung, wie ich denke und welche Schlussfolgerungen ich ziehe. Alle Menschen können gleich denken. Und indem ich denke, erfasse ich objektive Wahrheiten, die in der Welt vorhanden sind. Alle Dinge haben einen eigentlichen Sinn und können gedanklich so nachvollzogen werden, wie sie existieren. Deshalb kann ich, wie jeder andere Mensch auch, objektiv denken und sprechen.
Wenn der Mensch nur so wäre.
kjg
4 Antworten
Aus diesem „Buchhalterdilemma“ komme ich nur raus bzw gar nicht rein, wenn ich verzeihen kann und daher gar nicht erst mit dieser kleinlichen Aufrechnerei beginne bzw in mir kultiviere!
Wir Deutsche gelten ja weltweit als begnadete Rechthaber. Da ist eine allgemeine, verzeihende Grundhaltung ganz, ganz weit weg. Aber schön, dass Du eine hast.
Diese verzeihende Grundhaltung dient in erster Linie dem Erhalt meiner Autonomie: indem ich die Kränkung verzeihe bringe ich sie schnell aus meinem Kopf und vor allem auch den der mich gekränkt hat – jede Sekunde Rachegedanke ist eigentlich schon viel zu lange! Ich will ja mit diesem Ekel nichts zu tun haben und vor allem möchte ich nicht, dass es mein Handeln bestimmt!
Klaus, Deins ist schon eine höhere Form der strategischen Moral, geben um zu nehmen, der dialektische Klassiker. Wenn Du das durchhalten kannst, bewundere ich Dich. Mir ist das bei aller Kopfeinsicht emotional nicht immer möglich. Habe in meinem Leben wohl zu viele Western gesehen, wenn mein Rachbedürfnis wieder einmal nach Duell schreit (Hättest Du nicht Lust, einen post zu Deiner Auffassung in der „Strategischen Moral“ zu schreiben?).