Die reinigende Kraft der Sünde

Von kjg
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Wir begrüßen in IF-BLog Dr. Klaus-Jürgen Grün (KJG). Hier sein erster Beitrag!

„Es ist in der Welt nicht schwer zu bemerken, daß sich der Mensch am freisten und am völligsten von seinen Gebrechen los und ledig fühlt, wenn er sich die Mängel anderer vergegenwärtigt und sich darüber mit behaglichem Tadel verbreitet.“

Nicht vom gescholtenen Nietzsche stammt diese Einsicht in die Wirkungsmechanismen von Ethik und Moral, sondern vom liebsten Dichter der Deutschen, von Goethe. Freilich wird sie nicht gerne von Goethefreunden zitiert.

Denn Goethes Einsicht wirft ein ungewohntes Licht auf die im Zusammenhang mit der Zumwinkel- und VW-Affäre in diesen Tagen häufig gestellte Frage: Ist das Verhalten vieler deutscher Manager noch moralisch zu rechtfertigen? Aus der Sicht Goethes lautet die Antwort: „Ja“.

Eine „ziemlich angenehme Empfindung“ nennt er es, wenn wir uns durch „Mißbilligung und Mißreden über unsersgleichen“ erhöhen. Nichts gleiche der „behaglichen Selbstgefälligkeit, wenn wir uns zu Richtern der Obern und Vorgesetzten, der Fürsten und Staatsmänner erheben“. Die Übeltäter im Management erweisen nach dieser Auffassung dem moralischen Empfinden im Volk sogar einen großen Dienst. Stellvertretend für unsereins verhalten sie sich unredlich; und stellvertretend für uns stecken sie die Prügel dafür ein. Unser moralisches Empfinden benötigt von Zeit zu Zeit ein Objekt, über das es sich ergießen darf. So stillt es unseren Hunger nach guten Taten, ohne dass wir sie selbst vollbringen müssen.

Die Versuchung, der einige der Reichen, Schönen und Mächtigen des Landes im großen Stil verfallen sind, kennt der einfache Bürger im kleinen Leben nur zu gut – Unehrlichkeit bei der Steuer, Motivationshilfen im Sinne von Bestechung, Lustreisen auf Firmenkosten. Wer ist frei von der Versuchung, Gelegenheiten – wenn sie sich bieten – zu ergreifen? Und welche Lust bleibt demjenigen, der der Versuchung widersteht, und sei es noch so schmerzhaft für ihn? Ihm wird die Katharsis zuteil, das reinigende, angenehme Gefühl, Missbilligung gegenüber dem Menschen aussprechen zu dürfen, dem man in kaum einer Hinsicht das Wasser reichen kann.

„Der Klügere gibt nach“, heißt ein bekanntes Sprichwort, das das Erlebnis der Ohnmacht im Handumdrehen in eine Geste der Herrschaft verwandelt. Welch eine Befriedigung für den Narzissmus bedeutet es, wenn wir aus eigener Schwäche heraus gezwungen sind nachzugeben, aber dem anderen wie uns selbst einreden können, es sei vom Standpunkt vermeintlich höherer Macht – der Macht der Klugheit – aus geschehen.

Die Tabubrecher des Volkes leisten einen Dienst am moralischen Empfinden der Masse, indem sie ihr die Möglichkeit verschaffen, sich gut zu fühlen.

Nicht die Übeltäter allein repräsentieren das Verkehrte unserer Gesellschaft. Es gibt nämliche kein richtiges Leben im falschen, wie Adorno sagte. Das Verkehrte und Falsche liegt schon in der Doppelmoral des Volksempfindens. Von Zeit zu Zeit benötigt es die Sündenböcke, auf die es mit dem moralischen Finger zeigen darf, um sich selbst eine „ziemlich angenehme Empfindung“ zu verschaffen. Im „behaglichen Tadel“, von dem Goethe in Dichtung und Wahrheit spricht, reinigen wir uns von den kleinen Versuchungen und Sünden, indem wir sie den Großen und Mächtigen ausprügeln dürfen.

KJG

Klaus-Jürgen Grün wird ab sofort regelmäßig in IF-Blog veröffentlichen. Vielen Dank!

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