Erkenne dich selbst!
Der große sokratische Spruch gefällt fast allen Menschen, und das seit 2500 Jahren: „Erkenne dich selbst“. Er wirkt wie die Aufforderung zum befreienden Denkakt. Aber warum befolgen ihn die Menschen, selbst wenn sie beeindruckt von diesem Satz vor ihm immer wieder niederknien, nur in Ausnahmefällen? Wäre es ein Einfaches, das mit dem Satz Geforderte zu erfüllen, wäre der Satz längst aus unserem Bewusstsein verschwunden.
„Erkenne dich selbst!“ ist ein moralischer Imperativ, der nur deswegen ausgesprochen werden muss, weil Menschen nicht von alleine auf diesen Gedanken kommen. Selbsterkenntnis ist nicht das natürliche Geschäft des Denkens, sondern dessen Gegenteil. Denken ist hauptsächlich damit beschäftigt, Gedanken abzuwehren, die für Individuen und Kollektive unerträglich sind. Selbsterkenntnis ist wohl die stärkste Unerträglichkeit.
„Vieles ist ungeheuer, nichts ungeheurer als der Mensch“, lautet ein Schlüsselvers des Eingangs-Chores aus Sophokles „Antigone“. Das widerspricht nun auf kränkende Weise der Selbstwahrnehmung des Menschen als einem gottähnlichen, von Gott geliebten, die Menschenrechte noch in die letzten Winkel der Welt hineintragenden sittlichen Wesens.
Sobald Selbsterkenntnis daher auf jenes Ungeheuerliche im Innersten des Menschen stößt, wird sie nicht mehr als Selbsterkenntnis wahrgenommen. Selbsterkenntnis wird automatisch dann abgewehrt, wenn die Angst am Horizont erscheint, eher als Kreation der eigenen Projektion eines Teufels verstanden werden zu müssen, als vom allzu ähnlich vorgestellten lieben Gott erschaffen worden zu sein.
Der Imperativ, „Erkenne dich selbst“, kränkt den Narzissmus des Menschen. Dieser kann den Auftrag des Gebots nur so weit erfüllen, wie er die Angst vor dem eigenen Triebleben erträgt. Er bevorzugt doch besser Erkenntnisse von Dingen, die von ganz weit hergeholt sind: Erkenntnisse über Gott und den Anfang der Welt, Erkenntnisse über ein Leben im Jenseits, Erkenntnisse über das Paradies und das Ende der Welt. Doch die Erkenntnis des unmittelbar Nächsten, liebt der Mensch gar nicht. Er hat Angst vor der Wahrheit.
Wahrscheinlich hätten wir vollkommen andere Begriffe vom Guten, vom Ethischen und vom Moralischen, wenn wir dem Blick ins Ungeheure besser standhalten könnten. Sophokles führte vor, welche Abgründe wir in uns selbst erkennten, wenn wir den Mut zur Selbsterkenntnis wirklich hätten:
„Völker der Vögel frohgesinnt,
fängt in Garnen er, rafft hinweg
auch des wilden Getiers Geschlecht,
Ja, die Brut der salzigen See
in eng geflochtenen Netzen,
der klug bedachte Mann, besiegt
mit List und Kunst das freie,
bergbesteigende Wild und umschirrt mit dem
Joche den mähnigen Nacken des Rosses und
auch des unbeugsamen Bergstiers.“
(Antigone)
Sophokles benötigte den Imperativ nicht. Und dieser wird auch nur von den vielen Menschen gebraucht, die von sich selbst meinen, in der geforderten Sache schon weit genug gekommen zu sein, so dass es jetzt nur noch darauf ankomme, die anderen zu ermuntern. Aber auch deren Selbsterkenntnis darf dann das Ungeheuerliche nicht erkennen, andernfalls fallen sie der Verachtung anheim.
Die Aufforderung: „Erkenne dich selbst“, richtet den Blick auf den Menschen, wie er ist. Leichter fällt es jedoch den Menschen, sich damit zu befassen, wie sie sein sollen. Dann nämlich haben wir unsere schönen Bilder von uns selbst vor Augen, nicht aber wie wir tatsächlich sind. Vieles in der Welt ist ungeheuer, aber nichts ist so ungeheuer wie der Mensch, sagt Sophokles. Wer ist schon interessiert an dieser Selbsterkenntnis?
KJG
Eine Antwort
Als einer der sich Ziemlich gut erkennt, finde ich den Spruch von Sokrates schlecht. Ich erkenne ein alten Man der kaum etwas in der Welt gewirkt hat, und der in der Zukunft noch weniger wirken wird; und das, trotz eine sehr guten Anfang in Leben. Thomas Gray got it right; „Where ignorance is bliss, ‚tis folly to be wise“. Als ich jung war, hat Sokrates mir gefallen. Platon hat mir nicht gefallen. Ich bin davon ausgegangen das wo er Blödsinniges von Sokrates weiter gibt, er bloß missverstanden hat. Später habe ich gelernt das Sokrates politisch sehr weit rechts stand, und kein guter Ehemann war. Er war auch von damaligen Schriftstellern als ehe Komisch gesehen. Hat er sich erkannt?
Der Spruch von Sophokles gefällt mich auch nicht.