Was bringt Menschen dazu, wie aus heiterem Himmel in eine Universität einzudringen und Dutzende von Kommilitonen zu erschießen? Warum rasten Eheleute nach dreißig Jahren Ehe ohne sonderliche Vorfälle plötzlich aus und erschlagen ihren Partner? Wie kommt es, dass unauffällige brave Männer in Ihrer Nachbarschaft eines Morgens als brutale Triebverbrecher enttarnt werden? Antworten auf diese und ähnliche Fragen setzen ein hohes Maß an empirischen Kenntnissen voraus. Wir müssen wissen, wie die Täter aufgewachsen sind, welche Schulbildung sie haben, ob sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren und vieles mehr. Mit diesem Wissen können wir daran arbeiten, ähnliche Verbrechen künftig zu vermeiden und zu ermessen, ob ein Straftäter wird lernen können, die Normen der Gesellschaft zu achten oder nicht.
Je mehr wir über diese ursächlichen Faktoren herausfinden, um so fraglicher erscheint uns eine Forderung, die insbesondere konfessionell gebundene Theologen und Innenpolitiker der Philosophie einklagen. Sie behaupten nämlich, zu den bekannten und unbekannten empirischen Faktoren, die zum messbaren Auslöser einer Handlung werden können, müsse noch ein nicht-empirischer, nicht-messbarer, aber notwendiger und wesentlicher Faktor hinzu kommen: der freie Wille zur Selbstbestimmung.
Lässt man sich auf diese Forderung ein, dann müssen Kriminologen und Strafrechtler, deren Ziel es ist, Verbrechen zu verhindern und Straftäter wirkungsvoll zu therapieren, herausfinden, wie man auf die freie Willensbildung Einfluss nehmen kann. Während sie dieser Aufgabe nachgehen, müssen sie stetig aufs Neue die ernüchternde Erfahrung machen: Wonach sollen sie eigentlich suchen, um darauf Einfluss zu nehmen? Alle anderen Faktoren, die eine Handlung bestimmen, können sie erkennen. Aber diesen einen, den wichtigsten, den wesentlichen, denjenigen, der die Handlung allererst zu einer Handlung machen soll – von ihm wissen sie nicht einmal, wo sie ihn suchen sollen.
Wollten Kriminologen und Strafrechtler heute so unbefangen sein und bei Philosophieprofessoren Hilfe suchen, werden sie eine eigentümliche Auskunft erhalten: Der Grund, warum sie den freien Willen nicht studieren könnten, um auf ihn rechtskonformierend einzuwirken, liege darin, dass der freie Wille nicht empirisch messbar sei. Man begehe einen Kategorienfehler, den freien Willen als eine empirische Tatsache betrachten zu wollen. Schließlich habe Kant schon gezeigt, dass der freie Wille dem transzendentalen Subjekt zugehörig sei und nicht dem leiblichen, dem empirischen. Das transzendentale Subjekt habe seine Existenz in der intelligiblen (gedachten) Welt. Und dort sei Freiheit eine notwendige Bedingung für Handlungen von ethischem Wert. Selbst wenn in der empirischen Welt diese Freiheit niemals angetroffen werde, könne daraus ihre Ungültigkeit für das transzendentale Subjekt nicht abgeleitet werden.
Mit solchen Scherzen haben sich seit beinahe hundert Jahren die Strafrechtler von Ethikern in den April schicken lassen. Richter haben kein transzendentales, sondern ein empirisches Interesse am Menschen. Wenn ein Richter einen Straftäter ins Gefängnis schickt, kann er nicht nur das transzendentale Subjekt ins Gefängnis schicken, sondern er muss den leibhaften Menschen einsperren. Das transzendentale Subjekt ist das denknotwendige Subjekt, das empirische aber dasjenige, das auf der Straße herumläuft oder innerhalb von Gefängnismauern.
Es ist daher kein Wunder, dass sich Kriminologen heute kaum mehr Rat bei Transzendentalphilosophieprofessoren holen, sondern bei Hirnforschern. Die Bedeutung der Erkenntnisse der Hirnforscher für unser Verständnis von Freiheit hat nun erstmals ein Strafrechtler an der Universität Rostock in seiner Dissertation auf die Formulierung strafrechtlicher Schuld angewandt. Mit seiner Studie Grenzen der Freiheit hat Grischa Detlefsen nun zeigen können, dass sich unser Strafrecht in der gegenwärtigen Gestalt „im Widerspruch zur Verfassung“ befindet. Denn dem Menschen wird „zur Vermeidung der Bestrafung schlichtweg Übermenschliches abgefordert“, wenn es zur Vermeidung einer Straftat gehören soll, dass der potenzielle Täter aus freier Selbstbestimmung seinen Willen nicht von der Straftat ablenke. Genau dies aber verlangt unser Strafrecht, weil es sich auf einen überalterten und aus theologischer Tradition stammenden Begriff von Schuld stützt. Der Verfasser dieser Kolumne hat am 27. April an der Frankfurter Universität in einer Podiumsdiskussion mit Michel Friedman und Gerhard Roth versucht, in der Öffentlichkeit ein Problembewusstsein für diese „Grenzen der Freiheit“ zu schaffen. Zur vorbehaltlosen Mitwirkung an dieser Diskussion ist in Frankfurt kein Philosophieprofessor und kein Strafrechtler zu gewinnen. Angesichts der Freiheit, die andere Universitäten den von herrschender Lehrmeinung abweichenden Blickpunkten zugestehen, muss hier gefragt werden, wann endlich auch in Frankfurt am Main die Gralshüter des freien Willens aufhören, junge Wissenschaftler und Redakteure unter Druck zu setzen, damit sie die neurobiologische Entzauberung des transzendentalen Subjekts möglichst noch im Keim ersticken?
KJG