Magisches Denken

Von kjg
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Klaus-Jürgen Grün hat dieses Wochenende schöne Stunden mit Lesen und Schreiben in Zügen verbracht. Dabei hat er einen „Zugbegleiter“ gefunden und so ist ein neuer Text für IF-Blog entstanden.

Der Werbeslogan eines Bibelverkäufers lautet: „Wer Jesus hat, hat das Leben. Wenn Sie den Anschluss an das wirkliche Leben nicht verpassen wollen, lesen Sie bitte in der Bibel“. Die Deutsche Bahn druckt den Slogan auf ihren Reiseplänen aus, die in den ICEs über die jeweiligen Anschlusszüge informieren. Der Werber gibt die Internetadresse www.werjesushathatdasleben.de an. Er wird seine Kunden finden.

Allerdings verspricht der Slogan den Gewinn des wirklichen Lebens. Dabei wird unser Verständnis von Wirklichkeit, das uns tauglich für die wirkliche Lebenswelt machen sollte, von den Füßen auf den Kopf gestellt. Dass ein Mensch durch das Lesen der Bibel den Eindruck gewinnen kann, dort auf das wirkliche Leben gestoßen zu sein, brauchen wir so wenig leugnen, wie den Eindruck eines starken Rauchers, durch seine Sucht nicht physisch krank zu werden.

Im Falle der Raucher hat die Gesellschaft regulierend eingegriffen. Sie glaubt, Raucher vor sich selbst und Passivraucher vor den vermeidbaren Gefahren schützen zu müssen, die das riskante Leben der Raucher für die Gesellschaft nach sich zieht. Der Gesetzgeber schreibt vor, dass Zigarettenwerbung auf das hohe Risiko für die Gesundheit und das Leben hinweisen muss, die der Genuss ihrer Produkte bei Menschen verursachen kann.

Warum glauben wir eigentlich, dass die Umkehr des natürlichen Realitätsbewusstseins, nämlich dass das Versprechen, in der Bibel das wirkliche Leben finden zu können, nicht minder gesundheitsschädlich ist? Wohin wir schauen, belehrt uns die Erfahrung, dass die Verschiebung der Wirklichkeitskraft von den realen Gegenständen der Welt auf eine jenseitige, imaginäre, magische und allein in der Vorstellung wirkliche Wirklichkeit im höchsten Maße gefährlich ist. Wer einen ungedeckten Scheck ausgibt und dabei an die imaginäre Kraft des Geistes appelliert, sich den Realwert des Wertpapiers nur fest genug vorstellen zu müssen, wird im wirklichen Leben enormen Schaden anrichten. Wenn Menschen Wertpapiere kaufen, deren Wert in einer rein gedachten Wirklichkeit existiert, vertrauen sie auf die selbe magische Kraft eines bloßen Gedankens, die der Bibelverkäufer mit seiner Illusion anpreist.

Denn ein ungedeckter Scheck hat nicht anders als ein ungedecktes Wertpapier den Mangel, dass ihm in der Wirklichkeit nicht entspricht, was auf dem Papier steht. Solche ungedeckten Schecks wecken Erwartungen, die sie nicht einlösen können, und sie befördern die Neigung des Menschen, fromme Erwartungen für realer zu halten als ein ausgeprägtes Realitätsbewusstsein.

Unsere Kreditwirtschaft ist stark beschädigt worden durch das falsche Credo (credo = „ich glaube“ Die wichtigsten Begriffe der Finanzwelt stammen nicht zufällig aus der Bibel: „Gläubiger“, „Schuldner“, „Kredit“, „E-Mission“, „Erlös“). Nur weil wir Menschen nicht gelernt haben, präzise zu unterscheiden, ob wir es mit bloß gedachten oder mit wirklichen Werten zu tun haben, sind wir in eine Weltfinanzkrise gestürzt, die alle bisherigen Krisen in den Schatten stellt. Nun können wir zwar sagen, Krisen gibt es immer, und manchmal wachsen sie sich eben zur Revolution aus. Warum sollte also nicht die gegenwärtige Krise das Ende des Kapitalismus bedeuten? Das ist richtig, und wir würden die Opfer, die die Krise fordert, nicht beklagen dürfen.

Bedauerlich ist nur, dass wir mit erheblichem bürokratischem Aufwand beispielsweise die Schäden des Rauchen eindämmen und vorgeben, den Rest der Gesellschaft schützen zu wollen vor dem Realitätsverlust der Raucher hinsichtlich ihrer Fähigkeit, das reale Risiko für ihre Gesundkeit korrekt einschätzen zu können. Gleichzeitig aber dürfen die Urheber des magischen Denkens mit der Verbreitung von Weihrauch verantwortungslos das ohnehin schwach ausgebildete Realitätsbewusstsein der Deutschen aus Eigennutz und Eigeninteresse verstärken, ausbeuten und mit ungedeckten Versprechungen befriedigen. Nämlich statt ihre Pflicht zu tun und über die Gefahren einer Beschädigung der rationalen Fähigkeiten des Menschen hinzuweisen, dürfen sie ungehindert die Denkfunktionen von Menschen derart vergiften, dass sie zu einem Leben in der wirklichen Welt am Ende nicht mehr tauglich sind.

Aber wir Menschen lassen uns schnell zum Glauben an die Materialität von bloßen Buchstaben verführen, statt die Materialität der Welt mit wahren Worten auszusprechen. Ähnlich wie auf Zigarettenpackungen sollte daher auf jeder Bibel die Warnung angebracht werden:

„Der Inhalt dieses Buches kann Ihr Realitätsbewusstsein tödlich beschädigen.“

KJG

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