Die Vorgeschichte zum Artikel:
Zurzeit habe ich lieben Besuch aus China. Gestern am Sonntag (24. April) will unser Besuch die Bundes-Talkshow mit „Anne Will“ sehen.
Was tut man nicht alles für seine Gäste. Also schauen wir gemeinsam „Anne Will“. Das Thema der Sendung ist die Politik der EU und das Verhältnis zu ihrem Partner Türkei, mit besonderer Aufmerksamkeit auf Erdoğan, den zwölften Präsident der türkischen Republik (den ich eher als Diktator wahrnehme). Die Gäste sind überwiegend die bekannten Gesichter … (zur Sendung).
Zuerst ist es langweilig wie immer. Dann wird Recep Tayyip Erdoğan von einem Teilnehmer als großer Reformer gelobt.
Mich irritiert, dass diese Aussage von den Gesprächspartnern nicht nur sofort bestätigt wird, sondern dies den Diktator in der Runde aufwertet und als Gegenargument die Frage kommt, warum er denn jetzt „seine eigenen (guten) Reformen“ alle wieder abschaffen würde?
Bevor man über und von Reformen quatscht, sollte man sich zuerst mal überlegen, was denn unter „Reformieren“ zu verstehen ist. Ich schaue zuerst mal die Begriffserklärung für Reform in Wikipedia nach.
Gleich als ersten Punkt in der Aufzählung finde ich, dass der Begriff Reform nichts anderes beschreibt als
„Die planvolle und gewaltlose Umgestaltung bestehender Verhältnisse“.
Das erscheint mir doch schon als eine halbwegs valide Definition. Und siehe da – sie ist völlig wertfrei. Nirgends steht hier, dass eine Reform etwas „Positives“ oder Gutes“ sein müsse.
Die Definition fragt auch nicht nach dem Zweck. So bleibt eine Reform eine Reform, auch wenn sie zum Beispiel der Einführung einer (guten oder schlechten) Diktatur oder einer (vielleicht genauso guten oder schlechten) Demokratie dient.
Den eigentlichen Artikel zu Reform in Wikipedia finde ich schwach. Er beschränkt sich auf Beispiele für Reformen in der Geschichte; Politische Reformen im Deutschland der Gegenwart und Kirchliche Reformen. Er suggeriert auch, dass eine Reform nur dann eine Reform ist, wenn es um eine Umgestaltung geht, die zu einer wesentlichen Veränderung führt.
Das gängige und einzige Mittel zur Umsetzung von Reformen in Demokratien scheint die Gesetzgebung zu sein. Reformieren heißt, ein neues Gesetz zu machen. Woher kommt dann eigentlich der dauernde Ruf „nach neuen Reformen“? Da wir ja nicht die Kraft haben, Gesetze zu streichen, verkommt er zur Forderung nach mehr Gesetzen. Und genau die werden auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene eh schon in inflationärer Art und Weise produziert!
Ein gutes Objekt für eine geschichtliche Betrachtung von Reformen und ihre Folgen ist für mich die Geschichte der deutschen Eisenbahn. Zuerst wurden die Länderbahnen zur Deutschen Reichsbahn (DR) zusammengefasst. Dadurch entstand eines der größten Unternehmen der Welt und der weltweit größte Arbeitgeber. Die Vorteile waren simpel, es war jetzt möglich „Einheitsbaureihen“ in großer Stückzahl zu bauen. Diese „Reform“ hat wohl auch zu einer sehr leistungsfähigen Organisation geführt. Angeblich fuhr die deutsche Reichsbahn sogar in den ersten Jahren des zweiten Weltkriegs pünktlicher als die DB AG und ihre Wettbewerber heute.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die deutsche Bundesbahn (DB) in Westdeutschland die Nachfolgerin der DR. Zur Übernahme der Deutschen Reichsbahn der DDR kam dann die Privatisierung der Deutschen Bundesbahn und die Überführung in die DB AG inklusive einer Zerlegung in viele Eisenbahn-Betriebsgesellschaften und Erweiterung des Betriebes durch „private“ Konkurrenten.
Da kann man jetzt sicher trefflich über den Sinn und Zweck dieser Reformen diskutieren.
Aber zurück zur Talkshow von Anne Will.
Zuerst musste ich bei der Erwähnung der Reformen von Erdoğan an Adolf Hitler denken. War der doch nicht nur der größte Feldherr (GröFaZ) sondern auch der größte Reformer aller Zeiten (GröRaZ)? Sind doch viele Reformen und die daraus resultierende Gesetze, die überwiegend heute noch gelten, im dritten Reich angelegt worden (Arbeit, Mutterschutz, Verhältnis Kirche/Staat inklusive Kirchensteuer, Kulturgutschutz und vieles mehr).
Die türkische Geschichte, wie ich sie gelernt habe:
Als Kinder haben wir in der Schule und im Rahmen der BRD-Sozialisierung gelernt, dass die Türkei und die Türken den Deutschen sehr freundlich gesinnt seien. Militärisch wäre die Türkei immer ein guter Partner gewesen. Die aus dem Mittelalter stammende Angst vor den Türken wäre nicht mehr angebracht. Innenpolitisch wäre die Türkei sicher ein wenig kritisch zu bewerten, da die Trennung von Kirche und Staat naturgemäß in islamischen Staaten nicht so einfach wäre. Das säkulare Erbe von Atatürk (Mustafa Kemal Atatürk), dem Vater aller Türken, würde aber glücklicherweise von den Generälen des starken Militär beschützt, das so auch die Demokratie in der Türkei sicher stellen würde. Und natürlich hat man uns gelehrt, dass die türkischen Gastarbeiter ein wichtiges Moment für die deutsche Wirtschaft wären. Das war es dann schon, was man uns über den Nato-Staat und damals noch baldiges Mitglied der europäischen Gemeinschaft erzählt hat.
Naja, vielleicht hat Erdoğan ja da mit seinen Reformen durchaus etwas verändert.
RMD
Das Bild ist aus Wikipedia Kremlin.ru
Встреча Президента России Владимира Путина с Президентом Турции Реджепом Тайипом Эрдоганом в Баку
Eine Antwort
Seit Erdogan an die Macht kam, ging es mit der Türkei wirtschaftlich aufwärts, was man allenthalben sehen kann. Dies hat ihm große Sympathien eingebracht.
Die Türkei ist ein mosleminisch gläubiges Land, also hat er der Religion ihren Platz im täglichen Leben zurückgegeben. Das hat ihm wieder große Sympathien eingebracht.
Darüber sollte sich vor allem in Deutschland niemand aufregen, denn die Gründungsjahre der BRD waren von christlichen Parteien geprägt, die im Kölner Klüngel einen Platz für die Religion an den Geldquellen der Republik schufen. Die BRD war kein laizistischer Staat, wie die Türkei des Atta Türks.
Aber es ist wie schon Faust bejammerte:
„Man freut sich, dass das Volk sich mehrt,
Nach seiner Art behaglich nährt,
Sogar sich bildet, sich belehrt,
Und züchtet nur Rebellen.“
Das muss Erdogan auch gedacht haben, als sich intellektueller Widerstand gegen seine sultanhafte Regierungsform regte.
Seitdem wurden Journalisten, Richter und Militärs verfolgt und eingekerkert.
Kritik am Nepotismus und Bereicherung lösten Wutausbrüche aus und zu weiteren Verhaftungen.
Zwischen der verlorenen Wahl im Juni 2015 und seiner triumphaler Wiederwahl im November gab es 1.000 Tote zu beklagen.
Nun ist er völlig in den Despotismus abgerutscht und mischt in der Region tüchtig mit. Dabei hat ihm dass harte Vorgehen gegen Kurden in der Türkei und Syrien wieder Sympathien eingebracht.
Vergleiche mit Hitler oder Nazis sind allerdings völlig daneben und typisch deutsch. Die Türkei hat keine Strukturen wie in der Weimarer Republik, wo eine kaisertreue Beamtenschaft die Republik bekämpfte und kadavergehorsame Militärs, die ihr Handwerk unter dem Kaiser lernten, auf einen starken Mann warteten.
Erdogan ist ein machtbesessener autokratischer Herrscher, der die Zügel niemals freiwillig abgeben wird. Die Türkei ist so nicht reif für Europa und Erdogan muss genauso geschnitten werden, wie Putin oder die Mullahs.