Groß war die Aufregung vor nicht allzu langer Zeit. Ein Grundsatzurteil hatte die Beschneidung für ungesetzlich erklärt. So waren Beschneidungen strafbare Handlungen. Das ging aber nicht, denn „man“ musste ja auf „religiöse Gebräuche“ und „Religionsfreiheit“ Rücksicht nehmen. So wurde ganz schnell ein neues Beschneidungs-Gesetz verabschiedet werden, das es erlaubt, in Deutschland Beschneidungen aus religiösen Gründen wieder durchzuführen.
Und jetzt ist wieder ganz ruhig. Wie ich finde zu ruhig. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht, ob das Gesetz in der Tat verabschiedet wurde oder ob man nur jetzt so jetzt handelt darf, weil man meint, man hätte es verabschiedet. Auch weil seither so viele neue Gesetze gekommen sind und unsere „großen Koalition“ wie auch die EU fleißig ein Gesetz nach dem anderen verbricht.
Mir geht es aber gar nicht um Gesetze, sondern mehr um Menschlichkeit. Um gesunden Menschenverstand, um Philosophie und Psychologie. Die beschäftigen sich mit Tabus, die ja in unserem Leben als Regeln eine wichtige Rolle spielen. Sexuelle Handlungen eines Vaters mit seiner Tochter sind zum Beispiel tabu. Das hat die Natur gut eingerichtet. In diesem Fall ist das Tabu nützlich, um eine ungünstige Form von Vermehrung (Inzucht) zu vermeiden.
Kannibalismus ist auch ein Tabu. Der Gedanke, Menschenfleisch zu Essen, erzeugt in der Regel Ekel, individuell und kollektiv. Ein Tabu, das wie vermute daher kommt, weil wir wahrscheinlich auch selbst nicht gefressen mögen werden.
Wenn ich mich richtig erinnere, wurde das neue „Beschneidungsgesetz“ mit hohem Tempo durchgeboxt. Die Begründung hieß: „Dem Religionsfrieden zu Liebe!“. Es war wieder mal eine alternativlose Situation. Wobei ich mich immer frage, warum wir noch Parlamente und Politiker brauchen, wenn die gesellschaftlichen Entscheidungen eh alternativlos sind?
In der Diskussion damals finde ich viele Argumente gegen dieses Gesetz. Es passt nicht zu einer entwickelten Gesellschaft und ist mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar. Es wirft Aufklärung und Menschlichkeit wesentlich zurück. Den meisten Menschen in unserem Lande scheint das leider gleichgültig zu sein. Sie sind davon ja nicht betroffen. Und die archaischen Gepflogenheiten von Religionsgemeinschaften sind den meisten auch ziemlich egal.
Wahrscheinlich wäre das ganz anders, wenn die Beschneidung gegen ein wirkliches Tabu verstoßen würde und nicht nur Leben beschädigen.
Deshalb konstruiere ich jetzt mal künstlich so eine Situation. Um die Absurdität sowohl unseres gesellschaftlichen Denkens wie auch von religiöser Beschneidung klar zu machen, verlängere ich die religiöse Beschneidungszeremonie in Gedanken ein wenig.
Und nehme mal an, dass es einen ganz frisch entdeckten Stamm in Afrika gibt, der seine Kinder – Knaben wie Mädchen – beschneidet. Bei den Buben wie in manchen Religionen und Kulturkreisen üblich ganz „normal“, bei den Mädchen – um hier die Grausamkeiten einzuschränken – die harmlose Variante (bei der nur die äußeren Schamlippen entfernt werden). Das an sich aber auch schon grausam und völlig sinnlos ist.
Jetzt konstruiere ich bewusst weiter und nehme an, dass bei diesem angenommenen Stamm das bei der Beschneidung gewonnene Fleisch in die Festsuppe gemischt und von der Festgesellschaft verspeist wird. Um irgendeinem Aberglauben zu huldigen.
Und plötzlich kommt der Ekel über uns. Ein Aufschrei der Entrüstung würde durchs Land gehen. Nicht wegen der Beschneidung, die ja keinen interessiert. Sondern weil etwas passiert, das als absolut „widerlich“ und „unnatürlich“ empfunden wird. Als völlig unmoralisch …
Und alle wären dafür, diesem kleinen Stamm in Afrika ganz schnell klar zu machen, dass es so nicht geht und er sein unglückseliges Treiben beenden muss. Auch wenn es traditionell seit Jahrtausenden stattfindet.
Mit diesem vielleicht von manchen Lesern als geschmacklos empfundenen Beispiel will ich nur klarmachen:
Nicht die Grausamkeit der Beschneidung von Kindern und der lebenslängliche Schaden für die Betroffenen kann die Menschen aktivieren. Der Ekel jedoch würde die Menschen aber sofort auf die Barrikaden bringen.
Und das finde ich schlimm.
Und noch entsetzlicher finde ich es, wenn am Schluss „Beschneiden“ als moralisch hingestellt wird. Und wir fast schon wieder so weit sind.
Im übrigen:
Besagtes „Beschneidungsgesetz“ hätte man auch anders machen können. So wie früher mal bei der Abtreibungs-Reform. In dem man die Beschneidung als ungesetzlich beibehalten hätte, sie aber in religiösen Fällen unter gewissen Voraussetzungen von Bestrafung freigestellt hätte. Also ein klares Verbot mit Ausnahmen bei der Tatverfolgung. Dann wäre zumindest die Unrechtmäßigkeit der Tat festgestellt.
RMD
Noch ein paar Anmerkungen zum Thema:
P.S. 1
In Ägypten ist jede zweite Frau zwischen 16 und 30 beschnitten. Was machen die „Hüter der Freiheit“ im Westen?
P.S. 2
Die Entsorgung der Ergebnisse der Beschneidungszeremonie ist meines Wissens in Deutschland übrigens nicht besonders geregelt. Wahrscheinlich ist das dann medizinischer Abfall.
P.S. 3
Das Essen von Menschenfleisch ist ein Tabu. Trotzdem werden Menschen, die in Notsituationen (Flugzeugabsturz) die Leichen ihrer Gefährten aufgegessen haben um das eigene Leben zu erhalten, auch schon mal als Helden beschrieben.
P.S. 4
In Peking habe ich mal Ente gegessen. Das Gehirn der Ente war die große Spezialität und dem Ältesten vorbehalten. Ich war der Älteste. Dank der Freundschaft meiner Gastgeber wurde toleriert, dass ich das Gehirn nicht gegessen habe.