Bei uns im Unternehmen sind viele junge Kollegen von „Scrum“ als Methode der SW-Entwicklung begeistert. Deswegen haben wir ein internes Team gegründet und ein zentrales Projekt „Scrum“ aufgesetzt. Wir nutzen „Scrum“ in zahlreichen Projekten, IF-Blog hat eine eigene Kategorie Scrum und wir kooperieren intensiv in Sachen Scrum mit Universitäten.
Nicht zuletzt haben wir auch ein wunderschönes Scrum-Plakat geschaffen (wir hoffen, es ist das erste und einzige weltweit), welches natürlich „scrum-mäßig“ weiter entwickelt wird. Dieses Plakat gibt es auf Deutsch und Englisch, wir werden es bald in IF-Blog zum „down-load“ anbieten, zu Weihnachten gibt es dann ein großes Papierexemplar für unsere Kunden.
Unseren Scrum-Kollegen sage ich immer: „Toll, was Ihr da macht!“ und füge hinzu: „Genauso haben wir vor 25 Jahren unseren HIT entwickelt!“ Dann sehe ich grosse Augen und ernte ungläubiges Staunen. Aber in der Tat, da gibt es doch viele Parallelen.
HIT war unser erstes Erfolgsprodukt. Er wurde mit einem einzigartigen Team in unglaublichem Tempo entwickelt. Über das Team und seine Menschen werde ich hier noch öfters schreiben.
Ich habe das Pflichtenheft zur „Schreibmaschine“ HIT geschrieben. Dank an Lars (Schmiedeberg), dass er es so viele Jahre persönlich aufbewahrt hat. In vielen Punkten ist Hit genauso geworden, wie ich es damals beschrieben habe, in einigen ganz anders. Und manche geplante „Features“ sind auch in der aktuellen Version nicht vorhanden und werden wohl auch nie realisiert werden, obwohl sie ganz nett waren.
So bin ich gleich am Anfang zum „product owner“ für HIT geworden und bis heute geblieben. Übrigens: der „product owner“ unseres CLOUs war und blieb viele Jahre der Friedrich (Lehn). Natürlich ist eine zeilen- und spaltenorientierte Schreibmaschine auf UNIX im Markt nicht mehr relevant. Aber CLOU/HIT war ein wertvolles System mit mehreren Millionen Anwendern in Europa. Als Marktführer im Bereich Produktionstext lief er auf allen Unix-Systemen und später auch auf Windows. Und noch heute verrichtet der CLOU bei Behörden und Industrie wie ein alter Arbeitsgaul brav und nutzbringend seinen Dienst.
Tagsüber waren der Wolf (Geldmacher) und ich Berater, am Abend waren wir in der Firma. Wolf war unser Architekt, der technische Chef, der Helfer in allen Lebenslagen, der jedem mit Rat und Tat beistand. So wie unser Team technisch immer besser und mündiger wurde, übernahm Wolf immer mehr eine Rolle, die man heute als „Scrum Master“ bezeichnen würde. Wir hatten also einen Feierabend-Product-Owner und einen Feierabend-Scrum-Master. Das hat aber ausgereicht, man konnte am Abend die wichtigen Dinge sehr effizient besprechen und schnell entscheiden. Die Besprechungen waren so ganz natürlich kürzer und effizienter.
Es gab bei uns goldene Regeln: Eine war, dass am Ende eines jeden Arbeitstages (!) die aktuelle Version mit Ausnahme von bekannten und nicht das Funktionieren prinzipiell störende Fehler laufen musste! Später bei XP (=Extreme Programming), einem Vorläufer (?) von Scrum, hieß das dann „Continuous Integration“. Das war eine heiße Anforderung und hat zu zahlreichen Schichten bis spät nach Mitternacht geführt (oder ins Morgengrauen – es war aber kein „Grauen“). Wir waren jung, der Idealismus groß, den Kollegen wurde jede Stunde bezahlt und vom Betriebsverfassungsgesetz und verwandten Gesetzen wussten wir auch nichts.
Wir hatten ein klares Rollenspiel. Wolf als „Scrum Master“ vertrat die Interessen des Teams, er hielt konsequent allen Unbill vom Team fern und ließ niemanden von außen reinreden. Ich habe es ein paar Mal versucht und bekam immer eins auf die Nase. Auch das konnte (und kann) der Wolf ganz besonders: Nein zu sagen, ohne klein zu machen oder zu verletzen.
Bestimmen und Entscheiden durfte ich nur, wenn es um die Oberfläche bzw. um die Funktionalität des Systems ging. Ich hatte die Vision, die ich rückwirkend gesehen ziemlich rigoros durchzog und war Herr der Ressourcen. Und da gab es Konflikte. Gut kann ich mich noch erinnern, wie ich die Krise bekam, weil der Wolf schon 1985 (glaube ich) einen MX 500 mit 8 Prozessoren forderte (der Listenpreis lag deutlich über 300.000,- DM – das waren ungefähr 10 Mannjahre brutto zu Selbstkosten), den er ganz dringend für das HIT/CLOU-Team brauchte, und wie er dann die Krise bekam, als ich dieses System partout nicht kaufen wollte. Wir haben uns schnell geeinigt, haben das System gekauft (mit Forschungsrabatt hat es dann „nur“ noch 200.000,- DM gekostet). Es war eine riskante aber richtige und vor allem schnelle Entscheidung.
Solche Entscheidungen wurden bei uns übrigens immer übers Wochenende getroffen, auch das ist ein sehr gutes Verfahren. Man bespricht das Problem Freitag Abend und entscheidet am Montag Früh, am besten kurz am Telefon.
Wir mussten damals wahnsinnig schnell sein. Unser Vertriebsstil war nämlich auch „scrum-mäßig“. HIT war am Beginn seiner Entwicklung nur ein rudimentäres System. Aber wir hatten bei vielen Kunden hohes Interesse geweckt. Und oft war die Ansage unserer potentiellen Kunden: Wir nehmen euer System, wenn Ihr uns noch diese oder jene Funktion einbaut, z.B. eine Suchfunktion, einen Trenner, eine Schnittstelle zu diesem oder jenen Drucker … Oder wenn Ihr eine Programmierschnittstelle anbietet oder Portierung auf ein weiteres Betriebssystem durchführt. Und das musste immer ganz flott gehen. Am Ende einer Woche wurde die Funktion dem Kunden versprochen, am Ende der nächsten Woche wurde sie ihm zumindest in der Grundfunktion vorgeführt und zum Ausprobieren (oft zum Echteinsatz) geliefert. So könnte man sagen, dass wir Sprints im Wochenrhytmus hatten, das bei einem doch sehr mächtigen System. Es war ein heißer Tanz – der über Jahre hinweg ging.
Wir waren immer so ziemlich die ersten, auch beim standardmäßigen Einsatz von Werkzeugen wie sccs oder lint. Auch das ist „scrum“! Ohne sauberes Arbeiten und Disziplin geht es nicht. Für Kaizen-Insider: Die 5 S sind auch bei Scrum die Grundlage des Erfolges.
Aber Dank der genialen und belastbaren Architektur, die sich Wolf und seine Mitstreiter (und ein wenig auch ich) ausgedacht hatten (und dank UNIX und seiner für damalige Zeiten revolutionärer Entwicklungswerkzeuge) und natürlich vor allem Dank eines Teams von jungen Mitarbeitern, die für ihr Produkt durchs Feuer gingen, haben wir es immer geschafft.
Das war schon Scrum !!!!
Heute könnte ich meinen jungen Kollegen sagen: „Scrum ist doch auch nur alter Wein in neuen Schläuchen!“ Mache ich aber anders: Ich sage: „Scrum ist deshalb so gut, weil es eben ein wirklich guter alter Wein ist!“
Wahrscheinlich liegt hierin wohl ein Grund für den zunehmenden Erfolg von Scrum – vieles, was sich in der täglichen Praxis der Softwareentwicklung als hilfreich erwiesen hat, wurde durch Scrum aufgenommen und als offizielles Vorgehen akzeptabel gemacht.
In einer der nächsten Fortsetzungen berichte ich, wie wir mit Peter Öfelein, unserem Partner für PM bei der Siemens AG, die Versionsplanung auch ganz „scrum-mäßig“ gemacht haben.
RMD
2 Antworten
Hallo Roland,
Alter Wein in neuen Schläuchen ist auch deshalb so gut, weil dabei der Bodensatz verloren geht.
Bezogen auf Scrum meine ich damit, dass von den Vorläufern von Scrum (die es ja gegeben haben muß,
wenn man sagt „Alter Wein…“) nur das übernommen wurde, was sich als richtig und tragfähig erwiesen hat. Der Rest (der Bodensatz…) wurde wieder fallengelassen. Scrum ist daher nichts komplett Neues,
das sich erst noch beweisen muß, sondern eher ein über die Jahre gereiftes Produkt, von dem im Laufe der Zeit nur die besten Bestandteile übriggeblieben sind.
Für mich ist das einer der Hauptgründe, warum Scrum tatsächlich funktioniert, und sich sowohl bei den Programmierern, als auch beim Management etablieren konnte!
auch meine 2 cents dazu:
So wie Du das beschreibst, war die Entwicklung von HIT in weiten Bereichen wirklich hoch flexibel. Außerdem habt Ihr natürlich, wie Du beschreibst, auch ein gutes schlagkräftiges Team gehabt und die (überlebenswichtigen) Vorteile von intensiver direkte Kommunikation zu nutzen gewusst. Auch die bewusste Orientierung der (Weiter-)Entwicklung auf den Kundennutzen ist ein Schlüsselfaktor für ein (mindestens) überlebensfähiges, eher schon marktaufbrechendes Produkt.
Jedoch gibt es auch einige Aspekte in Deiner Schilderung, wo ich im Vergleich zu Scrum durchaus Potential sehe: Zuvorderst (und da haben wir ja womöglich auch einen rollenspezifischen Interessenskonflikt, auch wenn ich eigentlich glaube, dass der gar nicht da ist) sehe ich die beschriebenen Nächte bis zum Morgengrauen als kritisch. Scrum fordert eine Belastung, die nachhaltig durchsetzbar ist. Hier gibt es auch Untersuchungen (siehe etwa http://jeffsutherland.com/scrum/2008/09/maxwell-curve-getting-more-production.html), die nahelegen, dass mit weniger Arbeit sogar mehr Produktivität einher geht. Zum anderen gibt es in Scrum auch das Pull-Prinzip (Kanban), nach dem sich das Team auf die Aufgaben bis zum nächsten Sprintende festlegt.
Ich könnte hier noch ellenlang weitermachen, das liegt jetzt aber nicht daran, dass die Entwicklung von HIT so viel Kritikpunkte offenlassen würde. Ich bin da eher der Überzeugung, dass Ihr damals aus den gegebenen Umständen das optimale herausgeholt und viele innovative Vorgehensweisen schon intuitiv eingeführt habt. Aber mein (inneres) Feuer für Scrum sagt mir, dass da noch soo viel mehr zu tun und zu verbessern wäre 😉
Insofern – danke für den spannenden Artikel. Um in der bereits verwenden Metapher zu bleiben. ich denke Ihr habt damals einen tollen Jahrgangswein in die Schläuche gefüllt, der manchem Liebhaber auch heute noch mundet. Scrum ist für mich weniger ein neuer Schlauch für den Wein, sondern eher die Anleitung dafür, wie ich mich in meinem Weinberg immer weiter verbessere mit dem Ziel Spitzenweine zu machen.
So long – Axel