Es war das Jahr 1968. Der Roland war noch keine 18 Jahre alt und ging ins Jakob-Fugger-Gymnasium zu Augsburg. Wir hatten noch das G9, in sofern war ich in der Vorabitur-Klasse, die eigentlich die 8. war, aber die 12. hieß. Und noch nicht „Kollegstufe“, obwohl man am Ende des Schuljahres schon die ersten Fächer fürs Abitur „ablegte“.
Das war die Zeit, in der ich und meine Freunde sich in der Öffentlichkeit nur ungern ohne Zigarette zeigten und abends das Bier bei der Evi im Rehak (die Kneipe in der Bahnhofstraße zu Augsburg) oder wenn man intellektuell sein wollte, der Rotwein im Republikanischen Club ein „Muss“ waren.
Tagsüber verbrachten wir im Sommer die Zeit im „Familienbad“ und waren immer ganz schön braun. Nachts dagegen waren wir wenn irgendwie möglich in den amerikanischen Clubs (Hank’s in Oberhausen, Playboy in Pfersee) bei den GI’s. Die waren überwiegend schwarz, weil bei uns die U.S. Army stationiert war. Und das Heer war vor allem „schwarz“.
Wenn wir am frühen Morgen kurz vor dem Sonnenaufgang aus den verrauchten Kneipen in die frische Luft des herannahenden Morgens kamen, dann waren wir trotz aller Bräune eher blass.
In der Schule gab es damals Referatstage, heute heißt das wohl Projekttage. In der 12. Klasse hatten wir im Frühjahr einen solchen in Deutsch und/oder Geschichte. Es ging um Literatur.
Das Fach „Deutsch“ mochte ich nicht. Mit Kleist und Schiller konnte ich nichts anfangen. Günter Grass fanden wir zwar als Person gut, aber von „Blechtrommel“, „Katz und Maus“ und „Hundejahre“ hielt ich mich tunlichst fern. Von den Lehrern fühlte ich mich missverstanden, hatte ich doch den Eindruck, dass sie meine Aufsätze bewerteten ohne sie verstanden zu haben.
Geschichte gefiel mir schon besser. Ich habe auch viel gelesen, denn Literatur mochte ich sehr. Die fing für mich aber bei amerikanischen und russischen Science Fictions an und hörte bei Bertrand Russell, Albert Camus und viele französischen Autoren auf, die ich sehr liebte.
Wir hatten also in der 12. einen Referatstag zu „Geschichte der Literatur“. Vorträge hielt ich damals schon gerne. Aber ich hatte keinen Bock, viel zu recherchieren. Von dem ganzen theoretischen Interpretiere der niedergeschriebenen Gedanken durch neukluge Dritte hatte ich die Nase voll. Außerdem war ich mir nicht sicher, ein spannendes und erzählenswertes Thema zu finden. Also nahm ich mir vor, etwas zu erfinden. Und dachte mir den Inhalt meines Referat einfach mal von A bis Z aus.
Und kreierte einen jüdisch-arabischen Schrifsteller namens Tnuat Ben Dati. Ein großer Künstler in der Geschichte des mittleren Osten. Ich unterstellte im 19. Jahrhundert Wüstengedichte und -prosa verfasst zu haben. Leider wären die Werke vom Tnuat Ben Dati wie viele Sagen in die Bedeutungslosigkeit gerutscht, er würde aber kurz vor seiner Wiederentdeckung stehen. Das konnte ich mit einem Hinweis auf ein baldiges Erscheinen seines Gesamtwerkes wohl im Verlag 2001 (hieß der so?) begründen.
Es war eine Zeit, da lag der Blödsinn in der Luft.
Mein Freund und unser Geschichts-Ass Harald Wunderle musste auch ein Referat halten. Normalerweise hielt er das beste Referat. Er war also eine anerkannte Kapazität. Harald wurde später zum jüngsten SPD-Stadtrat aller Zeiten in Augsburg und war der Spezialist für die Altsanierung. Heute wohnt er „Im Sack“ und ist ein renommierter Arzt in der Fuggerstadt. Er war der Meinung, das es mit meinen Ansatz nicht gut enden würde, alleine schon wegen der Quellenangaben.
Da man diese aber genauso gut erfinden kann, wie den Rest, bot ich ihm eine Wette an. Wir einigten uns auf den damals maximalen und ultimativen Einsatz – einem Kasten Riegele.
Bei der Vorbereitung wurde aus Roland Dürre der Held der arabischen Literatur: Tnuat Ben Dati. Ich fühlte die Trockenheit der Wüste, die Kälte der Nächte und die Hitze der Tage. Ich genoss die Einsamkeit im Zelt und die Liebe zur Wüste. Immerhin hatte ich in meiner Kindheit alle Karl Mays gelesen, da war es nicht schwierig. Es gelang mir sogar, ein paar mich sehr beeindruckende Texte zu erfinden und zwei kurze Gedichte zu schaffen, die aber leider verloren gegangen sind. Schriftstellerschicksal.
Ich weiß noch, dass das Referat irgendwie so anfing:
An einem <werktag>, den <Datum> erblickte der junge Tnuat Ben Dati, Sohn von <weißnichtmehr> und <weißnichtmehr> unter dem Sternenhimmel der Wüste …
Ich erinnere mich auch noch, dass es recht schwierig war, den richtigen Werktag zum Datum zu finden. In solchen Kleinigkeiten wollte ich mir keine Blöße geben. Den Zeitbezug zum Geschehen in Europa zu konstruieren war dagegen auch ohne Wikipedia und Computer auch damals schon trivial.
Der Vortrag lief dann sehr gut. Nur der Harald stellte immer ein paar unangenehme Fragen, die mich in Bedrängnis brachten. So entwickelte sich eine lästige Diskussion, in der sich letztendlich unser Lehrer einschaltete und sein Wissen (oder besser seinen Senf) dazu gab.
Der gab mir dann sogar in Details recht, was mich doch sehr verblüffte und verwirrte …
🙂 Anscheinend gab es den Tnuat Ben Dati wirklich! Und mein Lehrer kannte ihn!!!!
Wieder hatte ein Lehrer ein wenig mehr seines Ansehens bei mir verwirkt. Mir in einer literarisch und geschichtlich erfundenen Geschichte fachlich Recht zu geben, das fand ich schon sehr unredlich. Mittlerweile habe ich in meinem für mich irgendwie schon langen Leben viel Schlimmeres erlebt.
Fürs Leben habe ich so in der Schule viel Schlechtes (oder Gutes?) gelernt – auch dass man ab und zu mit einem Bluff oder ein wenig Fake ganz schön weit kommen kann. Und ich kann nicht abstreiten, dass es Zeiten gab, in dem ich dieses Wissen nutzte.
Den Kasten Bier hat der harte Kern unserer Klasse in der Nacht zu Fronleichnam am Kissinger Baggersee vernichtet – gemeinsam mit einigen weiteren. Die Teilnahme an den Prozessionen am nächsten Morgen war uns nicht mehr möglich. So begann unser gottloses Dasein.
RMD
P.S.
In Wikipedia habe ich auch schon nach Tnuat Ben Dati gesucht – und ihn auch nicht gefunden! Ansonsten ist an dieser Erzählung gar nicht mal so viel erfunden.
4 Antworten
Übrigens, Roland, der Nachbar von Carl, der Konrad, der die vielen Solaranlagen am Dach und im Garten hat, kennt den Tnuat Ben Dati auch; Konrad sammelt nämlich alte Bücher und da seine Tochter mit einem Tunesier verheiratet ist, stöbert er des öftern auf den verschiedensten Basaren in Tunesien nach alten arabischen Buchexemplaren und – welch ein verrückter Zufall – ausgerechnet da ist ihm eine uralte Kommentierung des „West-östlichen Diwans“ von Tnuat Ben Dati die Hände gefallen – ist das nicht der helle Wahnsinn? Selbst der alte Goethe hätte sich da gekringelt…
Lieber Klaus, das ist doch der Wahnsinn. Ausgerechnet den „West-östlichen Diwan“ habe ich bei meinen damaligen Recherchen in meiner Großhirnrinde übersehen. Ich werde jetzt mein Abitur zurückgeben – zu viel Plagiate …
Roland, I can only express my admiration for your creativity and disregard for facts, already in your youth. I had huge difficulty even to think of a title for a story. I failed in English literature at the age of 16, and concentrated thereafter on science and maths.
Today, internet seems terribly slow; I suppose due to all the people googling „Tnuat Ben Dati“.
@Chris: Danke!